In Amsterdam widmen wir uns ein ganzes Wochenende lang dem Grenzbereich zwischen Anatomie und Kunst.
Man nannte ihn den „Artist of Death“, den Künstler des Todes. Auf der Leinwand in dem kleinen Hörsaal im Amsterdamer Akademisch-medizinischen Zentrum erscheint eine surreal wirkende Szenerie, in der sich Skelette menschlicher Föten mit präparierten Hirnhäuten Tränen abzuwischen scheinen. Es handelt sich um eines von Frederik Ruyschs (1638-1731) anatomischen Dioramen. Ruysch, ein niederländischer Anatom und Botaniker, verstand es, mit seinen Präparaten und Dioramen einzigartige Kunstwerke zu schaffen. Fasziniert betrachten die Anwesenden im Hörsaal seine Werke. Über sechzig Teilnehmer haben sich am Wochenende vom 10. zum 11. Mai 2014 zusammengefunden, um dem „Amsterdam Weekend of Anatomy“ im Museum Vrolik beizuwohnen (mehr zu diesem einzigartigen Museum gibt es in unserem Artikel Ausnahmen der Natur – Ein Besuch im Museum Vrolik). Ins Leben gerufen wurde die Veranstaltung von Joanna Ebenstein vom Blog Morbid Anatomy und dem New Yorker Morbid Anatomy Museum sowie von Laurens de Rooy, dem Kurator des Museums Vrolik. Auch wir gehören zu den Teilnehmern, die hauptsächlich aus den Niederlanden, aber auch aus Belgien, Deutschland, Großbritannien, Polen und den USA angereist sind, und lauschen gespannt den ersten Vorträgen dieses Tages. Frederik Ruysch wird uns in den nächsten zwei Tagen immer wieder begegnen, denn seine Verbindung von wissenschaftlicher Exaktheit und künstlerischer Darstellung lässt sich hier ständig wiederfinden.
Marieke Hendriksen berichtet in ihrem Vortrag vom Rätsel um die perlenverzierten Babys, welches sie im Rahmen ihrer Doktorarbeit untersucht hat. Ein Bild auf der Leinwand zeigt ein neugeborenes Baby in einem Glas mit Präparationsflüssigkeit, das an Hals und Handgelenken Schnüre mit Perlen trägt. Insgesamt sind nur elf solch verzierter Präparate bekannt. Sie stammen alle aus niederländischen Sammlungen aus der Zeit zwischen 1780 und 1810. Hendriksen erklärt, wie sie detektivisch in den historischen Sammlungen recherchierte und in der Literatur nach Hinweisen zur Herkunft der einzigartigen Präparate suchte. Vermutlich stammen die verzierten Babys aus den niederländischen Kolonien; endgültig geklärt ist das Rätsel jedoch bislang nicht.
Am Nachmittag nehmen wir an einem Wachsmodellierungskurs teil. Medizinische Wachsmodelle, sogenannte Moulagen, sind naturgetreue Abformungen erkrankter Körperteile. Sie dienten zur Ausbildung von Medizinern, wurden aber auch verwendet, um die Bevölkerung über das Aussehen von Krankheitssymptomen aufzuklären. Durch die Plastizität der Darstellungen waren sie Zeichnungen deutlich überlegen. Zum Erstellen der Moulagen wurde die Modelliermasse oft direkt auf die erkrankten Hautstellen aufgetragen, um möglichst realistische Abformungen zu erhalten. So konnten ganze Serien hergestellt werden, die Krankheitsverläufe oder die Wirkung von Therapien dokumentierten. Erst mit der Farbfotografie nahm die Bedeutung der Moulagen ab. Als wir den Kursraum betreten, warten bereits bleiche Wachsgesichter auf unseren Plätzen. In den nächsten Stunden versehen wir sie unter der Anleitung von Eleanor Crook mit Krankheitssymptomen und diversen Wunden. Die in London tätige Künstlerin Crook hat sich auf das Fertigen von Moulagen spezialisiert. In Kursen wie diesem erklärt sie eindrücklich, wie man aus dem speziellen Wachs beispielsweise plastische Pestbeulen modelliert und sie später blau-schwarz koloriert. Stolz packen wir am Ende des Kurses unsere durch Pest und Syphilis grausig entstellten Fratzen ein und treffen uns zum Ausklang des Abends im extra für uns geöffneten Ausstellungsraum des Museums Vrolik. Zwischen den Vitrinen mit all den medizinischen Präparaten haben wir bei einem Glas Wein die Gelegenheit, die äußerst interessante Gruppe von Teilnehmern näher kennenzulernen.
Der nächste Tag beginnt mit einem Vortrag über die Historie der Moulagen am Akademisch-medizinischen Zentrum Amsterdam. Die kunstvoll gestalteten Abformungen stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Wenig später finden wir uns in dem Teil des Gebäudekomplexes wieder, in dem die Moulagen heute verwahrt werden. Von Krankheiten schwer gezeichnete und doch seltsam lebendig wirkende Gesichter, aber auch Arme, Hände und Genitalien finden sich in Vitrinen und Schränken. Größtenteils wurden die medizinischen Kunstwerke auf der Insel Sumatra hergestellt und zeigen tropische Hautkrankheiten.
Anschließend gibt uns die Präparatorin Inge Dijkman Einblicke in ihre Tätigkeit am Museum Vrolik. Sie hat uns eine kleine Auswahl an Exponaten mitgebracht. Ganz behutsam hebt Dijkman einen knapp 10 cm großen, präparierten Fötus aus der Flüssigkeit und zeigt ihn uns. Sie erklärt, dass sich der Fötus außerhalb der Gebärmutter eingenistet hatte. Bei einer solchen, sogenannten ektopen Schwangerschaft, überlebt der Fötus in den allermeisten Fällen nicht.
Nach diesem besonderen Einblick in die Präparationswerkstatt nehmen wir an einer Führung zu ausgewählten Exponaten des Museums Vrolik teil, bei der wir viele spannende Details erfahren. So wurden zum Beispiel mehrere Fehlbildungen von Willem Vrolik (1801-1863), einem der Gründer der Sammlung, erstmals dokumentiert. Er beschrieb unter anderem den ersten bekannten Fall des Smith-Lemli-Opitz-Syndroms. Menschen, die an diesem Syndrom leiden, können kein eigenes Cholesterin herstellen. Die äußerlichen Ausprägungen des Syndroms sind vielfältig und reichen von weiblichen Geschlechtsorganen bei gleichzeitig männlichem Chromosomensatz über Fehlstellungen von Händen und Füßen bis hin zu überzähligen Fingern und Zehen. Je nach Schwere der Symptome, bei denen auch meist die inneren Organe in ihrer Funktion gestört sind, verläuft diese Erbkrankheit mitunter tödlich.
Zum Abschluss unseres Wochenendes am Museum Vrolik findet eine Führung durch die sonst nicht zugänglichen Sammlungsräume im Untergeschoss des Akademisch-medizinischen Zentrums statt. Während des Kalten Krieges war hier ein atombombensicheres, unterirdisches Krankenhaus eingerichtet worden. Heute erinnern die dicken Mauern und schweren Türverriegelungen noch an den einstigen Zweck. Der Kurator Laurens de Rooy führt uns in den ersten Raum, der einen Teil der anthropologischen und zoologischen Sammlungen beinhaltet. Im zweiten Raum stehen Regale voller Präparategläser. Einen Schwerpunkt der Sammlung bilden Tiere mit Fehlbildungen, die für Studien der vergleichenden Anatomie genutzt wurden. Im dritten Raum werden Trockenpräparate verwahrt. Diverse präparierte Schädel von Menschen und anderen Primaten stehen dicht an dicht. Das kunstvoll angefertigte, historische Trockenpräparat eines Armes, bei dem man den Verlauf der Sehnen gut erkennen kann, finden wir besonders interessant. Mit dem Verlassen der unterirdischen Räume endet schließlich unser „Amsterdam Weekend of Anatomy“.
In den zwei Tagen am Museum Vrolik konnten wir zahllose spannende Eindrücke sammeln und viele interessante Menschen kennenlernen. Die Veranstaltung verband auf einzigartige Weise Kunst und Wissenschaft und war in jeder Hinsicht lohnenswert. Wegen dem großen Anklang den das „Amsterdam Weekend of Anatomy“ gefunden hat, soll die Veranstaltung nächstes Jahr in ähnlicher Form erneut stattfinden.
Klingt wirklich nach einem sehr interessanten Wochenende unter internationalen Morbidikern. Wo haben denn jetzt Eure Moulagen mit Pestbeulen ihren Platz gefunden?
Wir merken uns das mal fürs nächste Jahr vor. ;)
Unsere Moulagen sind jetzt stilgemäß in einer Vitrine untergebracht. :-)
Eins ist sicher: Ihr habt weder Beruf(ung) noch Subkultur verfehlt. Dieser leidenschaftliche Blick bei der Arbeit! Es macht Spaß von euren Exkursionen zu lesen ;-)
Eine englische Übersetzung dieses Artikels ist nun im Blog von Morbid Anatomy erschienen: http://morbidanatomy.blogspot.de/2014/08/plague-buboes-and-preserved-primates.html
Das Programm für das zweite „Amsterdam Weekend of Anatomy“, welches vom 16. zum 17. Mai 2015 stattfinden wird, ist jetzt veröffentlicht: https://www.amc.nl/web/AMC-website/Museum-Vrolik-EN/The-Second-Amsterdam-Weekend-of-Anatomy.htm
Beeindruckende Arbeiten – alle Achtung
Es war auch dieses Jahr wieder ein wunderschönes und sehr interessantes Wochenende im Museum Vrolik. Sowohl die Mitarbeiter des Museums, als auch die Veranstalter von Morbid Anatomy und Eleanor Crook haben sich auch dieses Jahr wieder erfolgreich alle Mühe gegeben ein spannendes und faszinierendes Programm zu schaffen. Das Museum ist jedoch auch außerhab der Sondereranstaltungen absolut sehenswert.