Die Shell Grotto im südenglischen Margate besticht mit rätselhaften Mosaiken.
Im Untergrund der Stadt Margate in der englischen Grafschaft Kent verbirgt sich ein geheimnisumwitterter Ort. Verschlungene Gänge von 32 Metern Länge durchziehen hier den Kalkstein. Von ihren Wänden prangen Mosaike aus rund 4,6 Millionen Muschel- und Schneckenschalen. Die Muschelgrotte von Margate (Margate Shell Grotto) gibt bis heute Rätsel auf. Entdeckt wurde sie im Jahr 1835 von Joshua Newlove, dem Sohn des örtlichen Lehrers James Newlove, der mit seiner Familie das Haus auf dem Grundstück über der Grotte bewohnte. James Newlove erkannte schnell das wirtschaftliche Potential der Muschelgrotte und öffnete sie bereits im Jahr 1838 für zahlende Besucher. Das im Norden der Halbinsel Isle of Thanet gelegene Margate war damals ein äußerst beliebtes Seebad, das zahlreiche Ausflügler, insbesondere aus London, anzog.
Auch heute ist die Muschelgrotte, die sich weiterhin in Privatbesitz befindet, eine populäre Sehenswürdigkeit. Ein eher unscheinbares Gebäude mit Café, Andenkenladen und einer kleinen Ausstellung bildet den Eingang. Ein schmaler Gang, die Nordpassage, führt von dort hinab in den Untergrund. Die eigentliche Muschelgrotte besteht aus einem, als Rotunda bezeichneten, ringförmigen Gang, einer Kuppel mit Opaion, sowie einem gewundenen Gang, der Schlangen-Passage, die zu einer rechteckigen Kammer, dem sogenannten Altarraum, führt. An der südlichen Wand des Altarraums befindet sich eine bogenförmige, altarähnliche Wandnische. Die Mosaike bedecken alle Wände der Grotte mit Ausnahme der östlichen Wand des Altarraums, die während des zweiten Weltkriegs bei einem Bombentreffer zerstört wurde. Auch die Decke des Altarraums war ursprünglich wohl mit Schalenmosaiken versehen, die jedoch Baumaßnahmen auf dem Grundstück über der Grotte zum Opfer fielen.
Die Mosaike in der Grotte sind von bemerkenswerter Kunstfertigkeit. Die Muschel- und Schneckenschalen bilden geometrische Muster, florale Ornamente und diverse andere Formen, die zahlreiche Interpretationen zulassen. So wurden Motive aus der Grotte unter anderem als Widder oder Eulengesicht, als Lilie oder Tintenfisch, als Anch und als Skelett gedeutet. Nahezu alle in der Grotte verwendeten Schalen stammen von Meeresmuscheln und -schnecken, die an den Küsten Südenglands vorkommen. Miesmuscheln, Herzmuscheln, Kammmuscheln, Scheidenmuscheln und Austern lassen sich ebenso finden wie Wellhornschnecken, Napfschnecken und auch einige Seeigelskelette. Besonders zahlreich sind die kleinen, rundlichen Schalen der Stumpfen Strandschnecke (Littorina obtusata), die das Hintergrundmuster der Mosaike bilden. Da diese Art an den Küsten der Isle of Thanet relativ selten ist, ist anzunehmen, dass die Schalen in weiter westlich gelegenen Regionen Englands gesammelt wurden, wo die Schnecken in großer Zahl vorkommen. Die beiden einzigen nicht in England heimischen Arten lassen sich im Altarraum finden: Riesen-Flügelschnecken aus der Karibik und indopazifische Riesenmuscheln.
Die schummrig beleuchteten Gänge und die rätselhaften Mosaike schaffen eine einzigartige, mystische Atmosphäre, zu der auch die besondere Akustik der Grotte beiträgt, die selbst leiseste Geräusche zu verstärken scheint. Die unzähligen Schalen der Stumpfen Strandschnecken, deren Mündung in den Raum gerichtet ist, tragen vermutlich zu den ungewöhnlichen Schalleigenschaften der Anlage bei. Die ursprünglichen Farben der Schalen in der Grotte wurden im Laufe der Zeit von einem dunklen Überzug bedeckt. Offene Gasflammen, die jahrzehntelang zur Beleuchtung der Tunnel eingesetzt wurden, ließen die heute deutlich sichtbaren dunklen Kohlenstoffablagerungen auf den Schalen zurück.
Der Ursprung der Muschelgrotte ist bis heute ein Rätsel. Wann und von wem wurde die Anlage erbaut, und was war ihr ursprünglicher Zweck? Vor ihrer Entdeckung im Jahr 1835 tauchte die Grotte in keinerlei bekanntem Schriftverkehr auf und war auf keiner Landkarte Margates verzeichnet. Auch den Einwohnern des Ortes war die Grotte offenbar völlig unbekannt und ihre Entdeckung war für sie eine enorme Überraschung.
Es wundert daher nicht, dass zahlreiche Hypothesen über die Entstehung der Muschelgrotte existieren. Unter anderem wurde ein antiker Ursprung der Grotte vermutet und die Anlage als phönizische oder römische Kultstätte gedeutet. Die Phönizier waren zwar ausgezeichnete Seefahrer, die weite Teile des Mittelmeerraums kolonisierten; für ihre Anwesenheit auf der Isle of Thanet gibt es allerdings keine stichhaltigen Belege. Gegen einen römischen Ursprung sprechen insbesondere die Architektur der Grotte und die untypische Motivauswahl der Mosaike. Auch der mittelalterliche Templerorden wurde als Urheber der Anlage in Spiel gebracht; allerdings fehlt in der Grotte jegliche christliche Symbolik, die in diesem Fall zu erwarten wäre.
Insgesamt scheint ein neuzeitlicher Ursprung der Grotte plausibler zu sein. Die Tatsache, dass einige Schalen im Altarraum aus den Tropen stammen, unterstützt diese Annahme. Insbesondere im 18. Jahrhundert waren in englischen Landschaftsgärten sogenannte Follies populär. Follies sind Zierbauten, die der romantischen Inszenierung der umgebenden Landschaft dienen. Zu den häufigsten Follies gehören, neben Türmen und künstlichen Ruinen, auch Grotten, die oftmals mit Steinen oder Muscheln ausgekleidet wurden. Es ist daher denkbar, dass es sich bei der Muschelgrotte von Margate um ein solches Folly handelt. Gegen diese Hypothese spricht allerdings, dass über der Grotte lediglich Ackerland lag, das zu keinem herrschaftlichen Anwesen oder Park gehörte, und dass Follies üblicherweise repräsentativen Zwecken dienten und nicht versteckt angelegt wurden. Auch wurden für die Grotte von Margate, im Gegensatz zu typischen Follies, statt möglichst spektakulärer, tropischer Arten, fast ausschließlich einheimische Muscheln und Schnecken verwendet. Möglicherweise wurde die Muschelgrotte auch nie komplett fertiggestellt, da zwar das Portal zwischen Rotunda und Nordpassage mit Mosaiken ausgestaltet ist, die Nordpassage selbst hingegen nicht.
Besonders schwierig macht eine kunsthistorische Einordnung die unklare Bedeutung der in der Muschelgrotte dargestellten Motive, die keiner Epoche eindeutig zuzuordnen sind. Die Tunnel selbst sind möglicherweise noch älter als die Schalenmosaike, da der Aufbau der Grotte darauf hinweist, dass es sich bei der Anlage ursprünglich um eine einfach aufgebaute Kalkmine (ein sogenanntes Denehole) gehandelt haben könnte. In solchen Minen wurde in England bis ins Mittelalter Kalk abgebaut, der als Dünger verwendet wurde.
Auf jeden Fall werden weitere Forschungen nötig sein, um mehr über die Ursprünge der rätselhaften Anlage herauszufinden. Eine Datierung der Schalen mittels Radiokarbonmethode ist zwar generell möglich, wurde aber bislang noch nicht in überzeugender Weise durchgeführt. Erschwert wird sie insbesondere dadurch, dass seit der Entdeckung der Grotte immer wieder Teile der Mosaike mit neuen Schalen ausgebessert wurden. Neben den Folgen unsachgemäßer Reparaturen, leidet die Muschelgrotte heute vor allem unter der Zunahme der Luftfeuchtigkeit, die durch die Betonierung des Grundstücks über der Grotte in den 1980er Jahren hervorgerufen wurde. Der Beton wurde allerdings mittlerweile wieder entfernt und seit einigen Jahren finden Restaurierungsarbeiten statt, für die sich insbesondere die Friends of the Shell Grotto einsetzen. Es bleibt zu hoffen, dass die außergewöhnliche Muschelgrotte, die mittlerweile auch als Denkmal der höchsten Kategorie (Grade 1) geschützt ist, dadurch auch in Zukunft erhalten bleibt.