Eine bemerkenswerte Ausstellung über Ratten und ihre Verwandten ist derzeit in Mainz zu sehen.
Der Legende nach soll der Mainzer Erzbischof Hatto I. ein grausamer Mann gewesen sein. Als ihn zur Zeit einer großen Hungersnot notleidende Menschen um Getreide aus den kirchlichen Speichern baten, soll er sie in eine Scheune gelockt haben, die er anschließend anzünden ließ. Die verzweifelten Schreie der Unglücklichen, die in der Scheune verbrannten, kommentierte er kaltherzig mit den Worten: „Hört, wie die Mäuse pfeifen!“. Daraufhin sollen unzählige Mäuse erschienen sein, um Jagd auf den Bischof zu machen. Er floh auf den auf einer Rheininsel stehenden Binger Mäuseturm. Doch auch dort konnte er den Tieren nicht entkommen, die ihn schließlich als Strafe für seine Untaten bei lebendigem Leibe auffraßen. – Anlässlich des 1100sten Todestags von Hatto I. hat das Naturhistorische Museum Mainz die Legende um die menschenfressenden Nagetiere aufgegriffen und widmet seine aktuelle Sonderausstellung „Ratten“ den großen Verwanden der Mäuse.
Die wissenschaftlich recht anspruchsvolle Ausstellung präsentiert sich in klinischem Weiß und Pink. Sie beginnt mit einem allgemeinen Überblick über die Ordnung der Nagetiere (Rodentia), zu der auch die Ratten gehören. Die Nagetiere sind unter anderem durch ihr einzigartiges Gebiss mit den lebenslang wachsenden Nagezähnen gekennzeichnet und stellen die artenreichste Ordnung innerhalb der Säugetiere dar. Nagetiere haben eine immense Vielfalt verschiedener Lebensräume erobert. Einige von ihnen klettern geschickt in den Baumkronen, andere leben grabend unter der Erdoberfläche; es gibt auf zwei Beinen springende Nagetiere ebenso wie solche, die einen großen Teil ihres Lebens schwimmend im Wasser verbringen. Die enorme Vielfalt dieser Tiergruppe wird in der Ausstellung eindrücklich anhand von Präparaten unterschiedlichster Vertreter dargestellt.
Schwerpunkt der Ausstellung sind aber natürlich die Ratten (Gattung Rattus), insbesondere die Hausratte (Rattus rattus) und die Wanderratte (Rattus norvegicus). Und so findet sich im Zentrum der Ausstellung ein riesiges und abwechslungsreich eingerichtetes Terrarium, in dem eine Gruppe lebender Farbratten, eine domestizierte Form der Wanderratte, beobachtet werden kann (in einem kleineren zweiten Terrarium werden außerdem Hausmäuse gezeigt). Trotz der zahlreichen Klettermöglichkeiten waren die Ratten während unseres Besuchs allerdings eher schläfrig.
Haus- und Wanderratte haben sich im Gepäck des Menschen in alle Welt verbreitet. Die ursprünglich in Südindien vorkommende Hausratte gelangte wohl bereits zur Zeit der Römer nach Europa, wohin ihr die aus Ostasien stammende Wanderratte vermutlich im 18. Jahrhundert folgte. Heute hat die konkurrenzstärkere Wanderratte die Hausratte in Europa weitestgehend verdrängt. Die Unterschiede zwischen den beiden Rattenarten werden in der Ausstellung detailliert vorgestellt und der Besucher darf sich an einem Rattenskelett auch selbst an der Artbestimmung versuchen (was nicht gerade einfach ist).
Ratten sind sehr intelligente Tiere. Ihre erstaunlichen geistigen Leistungen werden in der Ausstellung am Beispiel der Labyrinth-Versuche dargestellt, die der US-amerikanische Psychologe Edward Chace Tolman in den 1930er und 40er Jahren durchführte. Er konnte nachweisen, dass Ratten im Kopf eine Karte ihrer Umgebung anlegen und neue Informationen in diese integrieren können.
Das vielfältige Sozialverhalten der Ratten wird dem Besucher mit dem „Rat-translator“ näher gebracht. Verschiedene Verhaltensweisen von Ratten, wie Begrüßung, Dominanzverhalten und Drohen, werden hier als Zeichnungen dargestellt und erklärt. Kampf und Demutsverhalten von Ratten sind außerdem in Form von Präparaten dargestellt.
Neben der Biologie wird in der Ausstellung auch die Kulturgeschichte der Ratten behandelt. Während Farbratten mittlerweile beliebte Heimtiere sind, waren Ratten lange vor allem als Vorratsschädlinge und Krankheitsüberträger gefürchtet. Insbesondere die durch Rattenflöhe übertragene Pest kostete das Leben vieler Millionen Menschen. Die Verschleppung von Ratten in isolierte Lebensräume hatte oft schwerwiegende Folgen für dort lebende Tiere. So wurde die ausschließlich auf den südlich von Neuseeland liegenden Campbell-Inseln vorkommende Campbellente (Anas nesiotis) beinahe von eingeschleppten Ratten ausgerottet. Die Bekämpfung der intelligenten Ratten ist allerdings bis heute eine große Herausforderung.
Sehr spannend fanden wir ein ganz besonderes Kuriosum in der Ausstellung, das Präparat eines Rattenkönigs. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Ratten, deren Schwänze so stark miteinander verknotet sind, dass sich die Tiere nicht mehr selbständig voneinander trennen können. Das hier gezeigte Exponat wurde dem Mainzer Museum vom zoologischen Museum der Universität Göttingen geliehen. Für viele weitere Informationen über Rattenkönige empfehlen wir unseren Artikel: Der unentwirrbare Rattenkönig.
Unter der Überschrift „Ratten-Mythen“ werden einige Geschichten und moderne Sagen zum Thema Ratten aufgegriffen, so etwa, ob Ratten über die Toilette in Wohnungen gelangen können, ob es im Untergrund von New York Riesenratten gibt, oder ob Ratten Metall durchnagen können. Und auch der Legende vom Bischof Hatto begegnet man hier.
Insgesamt ist die Ausstellung für alle, die sich für die Biologie und Kulturgeschichte von Ratten interessieren, sehr zu empfehlen. Sie ist zwar nicht besonders groß, bietet aber jede Menge fachlich fundierte und gut aufbereitete Informationen. Die Sonderausstellung wird noch bis zum 26.01.2014 im Naturhistorischen Museum Mainz zu sehen sein. Parallel dazu präsentiert das Bischöfliche Dom- und Diözesanmuseum Mainz bis zum 11.08.2013 eine Ausstellung über Erzbischof Hatto I. von Mainz. Diese ebenfalls sehenswerte Ausstellung zeigt nicht nur, wie sich das Schauermärchen über seinen angeblichen Tod im Mäuseturm entwickelte, sondern informiert auch über das Wirken des historischen Hatto I., der in seiner Zeit als Erzbischof (891-913) eine wichtige politische Rolle spielte und als Stifter bemerkenswerter Kunstwerke von Bedeutung war.