Im Amsterdamer Museum Vrolik lassen sich zahllose faszinierende und oft auch morbide Präparate aus der historischen Sammlung anatomischer Abnormitäten bestaunen.
Mit einer ausgedruckten Wegbeschreibung in der Hand überquerten wir das unübersichtliche Gelände des Akademisch-medizinischen Zentrums im Südosten Amsterdams auf der Suche nach dem Museum Vrolik. Endlich fanden wir, dank einiger verstreuter Hinweisschilder, in ein großes, modernes Gebäude, in dem Studenten und Wissenschaftler geschäftig umherliefen. Links von der Rezeption erblickten wir den Schriftzug „Museum Vrolik“ sowie die automatische Eingangstür, welche uns in einen einzelnen schwach beleuchteten Raum mit dunklen Wänden führte. Am Eingang des Museums weist ein Schild den Besucher darauf hin, dass keine Fotos erlaubt sind und dass sensiblen Personen, Kindern und Schwangeren von einem Besuch abgeraten wird. Als wir ins Innere des Museums traten und sich die Tür hinter uns schloss, umgab uns sofort die würdevolle Stille des Ausstellungsraumes. Dieser ist angefüllt mit alten und modernen Vitrinen, unzähligen antiken Gläsern mit Exponaten, reich verzierten Sockeln unter Glashauben und Podesten mit Trockenexponaten. Geleitet von einem am Eingang ausliegenden Informationsheft führte uns ein Rundweg durch die verschieden Themen der Ausstellung zu denen unter anderem die Entwicklung des menschlichen Embryos, das Gehirn, die inneren Organe, der Schädel und das Skelett gehören. Anfangs als Privatsammlung begonnen, bildeten die Exponate der Anatomieprofessoren Gerard Vrolik (1775-1859) und seines Sohnes Willem Vrolik (1801-1863) den Grundstein des heutigen Museums.
In der ersten Vitrine ist ein acht Wochen alter menschlicher Embryo zu sehen, welcher von der transparenten inneren Membran umgeben ist, wie von einer Hülle aus feinstem Chiffon. Zart und verletzlich wirkt dieses entstehende Leben. Was für gravierende Folgen es haben kann, wenn während der Entwicklung eines solchen Embryos Fehler auftreten, zeigen die nächsten Ausstellungsstücke in aller Deutlichkeit. „Dubbelmonstrum“ steht in Sütterlinschrift auf einem vergilbten Etikett. In einem eckigen Schauglas schwimmen zwei am Brustkorb miteinander verwachsene Föten. Daneben und dahinter verschiedene weitere Exponate siamesischer Zwillinge mit Verwachsungen an Rumpf und Kopf in unterschiedlicher Ausprägung; zum Teil so extrem, dass die Individuen zu einem zu verschmelzen scheinen. Die Posen, in denen die Föten präpariert wurden, lassen sie entweder wie in einer Art Zweikampf erscheinen oder so, als würden sie sich liebevoll aneinanderschmiegen. Bei der normalen Entwicklung eineiiger Zwillinge wird eine einzelne Eizelle zu zwei separaten Embryonen, die sich bereits in einem sehr frühen Stadium voneinander abschnüren. Bei siamesischen Zwillingen findet die Trennung der Embryonen hingegen unvollständig statt, wodurch die Körper, und oft auch die inneren Organe wie Herz und Leber, miteinander verbunden bleiben. Ganz in der Nähe der siamesischen Zwillinge ist das Präparat eines sogenannten Steinkinds (Lithopaedion) zu sehen. Es sieht aus wie die Versteinerung eines ungeborenen Kindes. Ein Steinkind kann entstehen, wenn sich der Embryo nicht im Uterus der Mutter einnistet, sondern in die Bauchhöhle gerät. Stirbt der Fötus dann ab und wird er nicht vom Körper der Mutter resorbiert, kann er oberflächlich verkalken und schließlich mumifizieren. Trotz der zum Teil beträchtlichen Größe, die ein Steinkind erreichen kann, ist beschrieben, dass Frauen mit einem Steinkind in ihrem Körper beschwerdefrei bis zu ihrem Tod gelebt haben. Das Exponat in der Vitrine ist fast bis zur Unkenntlichkeit verkalkt; nur die kleinen Fingerknochen treten deutlich hervor. In einem weiteren Schauglas hockt ein etwa 20 cm kleines Mädchen mit einem winzigen Körper und stummelartigen Gliedmaßen. Sie litt an einer Störung des Knorpel- und Knochengewebes (Blomstrand-Chondrodysplasie) wodurch sie bereits im Mutterleib stark verknöcherte. Ihre Wachstumsfugen sind bereits verschwunden; ein Prozess, der normalerweise erst nach der Pubertät einsetzt. Diese Krankheit ist extrem selten und wurde weltweit bisher nur sieben Mal beschrieben.
Auffällig an der Ausstellung des Museums ist der äußerst gepflegte Zustand der Räumlichkeiten und Exponate. Die Ausstellung wurde erst 2012 komplett neu eingerichtet wiedereröffnet. Leider fehlten bei unserem Besuch noch ausführlichere Beschriftungen zu den meisten Exponaten, woran aber derzeit gearbeitet wird. Die unaufdringliche Beleuchtung der Ausstellung scheint präzise geplant und die klare Konservierungsflüssigkeit zeigt jedes kleinste Detail; jede Hautfalte und jedes Härchen.
An der Wand des Ausstellungsraumes steht die älteste Vitrine des Museums: Der Hovius-Schrank. Als der Arzt Jacob Hovius (1710-1786) seine Sammlung abnormer Knochen aller Art der Amsterdamer Chirurgengilde zu Forschungszwecken spendete, war seine einzige Forderung, dass für die Sammlung ein passender Schrank gebaut werde. Und in diesem lassen sich noch heute die besonderen Stücke der Sammlung, wie ein zerschmetterter Oberschenkelknochen, der in ein anfahrendes Wagenrad geraten war, oder der Schädel eines Mannes, der durch einen Pferdetritt entsetzlich entstellt wurde, betrachten. Ein in dunklen Farbtönen gehaltenes Portrait, welches mittig auf dem Schrank thront, zeigt Hovius, der kritisch und irgendwie besorgt auf den Besucher hinunterblickt. Auf unserem Weg durch die Ausstellung kamen wir an einer etwa fünf Meter hohen Schrankwand vorbei, in der sich Skelette mit bizarr verbogenen und verdrehten Wirbelsäulen in alle Richtungen krümmen. Diese stammen zum Teil von Menschen, die an Morbus Pott litten. Diese Krankheit kann aus einer Infektion mit Tuberkulose-Bakterien resultieren. Im Verlauf der Erkrankung zersetzen sich langsam die Wirbel bis sie schließlich kollabieren und das Rückenmark verletzen.
Ein letzter Teil des Museums ist der Anatomie der Tiere gewidmet. Das Auge eines Wals, die Zunge einer Giraffe und verschiedene Tier-Embryonen in unterschiedlichsten Stadien stehen auf Regalböden. Die Gemeinsamkeiten in der Anatomie und Entwicklung der verschiedenen Wirbeltiere (inklusive dem Menschen) faszinierten Willem Vrolik, der eine beachtliche Sammlung zum Zwecke seiner Studien zusammenbrachte.
Nach der Fülle von Eindrücken, die in der Ausstellung auf uns eingeprasselt waren, empfanden wir eine gewisse Erleichterung, als wir das Museum mit den „Ausnahmen der Natur“ hinter uns ließen. Wir können bestätigen, dass das Museum Vrolik nichts für sehr empfindliche Personen ist, denn die Präparate wirken äußerst lebendig. Wer nach Amsterdam reist und sich für anatomische Abnormitäten interessiert, sollte sich das Museum Vrolik aber unbedingt ansehen.
Der Eintritt in das Museum Vrolik ist frei, es wird allerdings eine freiwillige Spende erbeten. Führungen durch die Ausstellung sind möglich, müssen aber rechtzeitig angemeldet werden. Einen interessanten Einblick in die Sammlung des Museums Vrolik bietet der Bildband „Forces of Form“ von Laurens de Rooy und Hans van den Bogaard, der brillante Aufnahmen der Exponate und informative Texte bietet.
Danke für diesen interessanten Beitrag. Sollte ich einmal wieder nach Amsterdam kommen, werde ich sicher einen Besuch in diesem Museum einplanen. Gab es das Buch „Forces of Form“ vor Ort zu kaufen? Im Internet wird dieses ja teils zu horrenden Summen gehandelt.
Das Buch „Forces of Form“ ist vor Ort in der Buchhandlung des Akademisch-medizinischen Zentrums erhältlich. Im November 2012 ist auch eine (broschierte) Neuauflage des Buches erschienen.