Wie Geradschnabelkrähen den legendären Wasserkrug-Test aus Äsops Fabel bestehen.
Einst fand eine durstige Krähe einen Krug mit Regenwasser. Sie schaffte es aber nicht, den Inhalt zu erreichen, da der Wasserstand in dem Gefäß zu niedrig war. Die Krähe dachte nach, nahm dann mit dem Schnabel einen kleinen Stein auf und lies ihn in den Krug fallen. Der Wasserstand stieg durch die Verdrängung ein Stück an. Daraufhin warf sie weitere Steine in den Krug, bis sie das Wasser schließlich erreichen und ihren Durst löschen konnte.
Dies ist die Fabel von der Krähe und dem Wasserkrug des griechischen Dichters Äsop (um 600 v. Chr.). Heute weiß man, dass diese antike Fabel keine rein erfundene Geschichte sein muss. Verschiedene Rabenvögel, darunter Geradschnabelkrähen (Corvus moneduloides) aus Neukaledonien, sind bei einem ähnlichen Versuchsaufbau nämlich dazu in der Lage, den Wasserstand in einem Gefäß mit Steinen gezielt zu erhöhen, genauso wie die kluge Krähe aus der Fabel. Geradschnabelkrähen sind bei Verhaltensforschern besonders beliebte Studienobjekte, da sie dazu in der Lage sind, Werkzeuge zu gebrauchen. So fertigen die Vögel in freier Wildbahn beispielsweise aus gezähnten Blättern passende Stücke an, um damit Insektenlarven aus Baumritzen zu angeln.
In einer aktuellen, in der Fachzeitschrift PLOS ONE erschienenen Studie ließen Forscher um Sarah A. Jelbert die geschickten Geradschnabelkrähen zu einer ganzen Serie von Verhaltensexperimenten antreten. Sie wollten untersuchen, inwiefern die Vögel physikalische Zusammenhänge begreifen, die dazu führen, dass der Wasserstand in einem Gefäß steigt und wo die Grenzen ihrer Fähigkeiten liegen. Für die Untersuchungen musste aber kein Vogel dursten; man animierte die Tiere stattdessen mit Leckerbissen, welche auf einem Stück Kork an der Wasseroberfläche trieben. Im ersten Experiment der Studie fanden sich die Versuchstiere in folgender Situation wieder: Nebeneinander standen zwei Röhren mit je einem Leckerbissen, der für sie mit dem Schnabel nicht zu erreichen war. Die eine Röhre war mit Wasser gefüllt, die andere hingegen mit Sand. Neben den Röhren lagen kleine Steine. Nur den Leckerbissen in der wassergefüllten Röhre konnten die Krähen durch Hineinwerfen der Steinchen erreichen. Und tatsächlich erkannten die Vögel in den meisten Fällen die richtige Lösung, und warfen die Steine in die Röhre mit Wasser.
Auch bei den darauf folgenden Versuchen wählten die Geradschnabelkrähen die richtigen Röhren oder die geeigneten Werkzeuge aus. So bevorzugten sie sinkende gegenüber schwimmenden Objekten, kompakte gegenüber hohlen Objekten und wählten von zwei Röhren diejenige aus, die bereits einen höheren Wasserstand hatte. Die Krähen meisterten jedoch nicht alle Aufgaben. So bevorzugten sie eine schmale nicht gegenüber einer breiteren Röhre, obwohl in der schmalen Röhre der Wasserstand schneller gestiegen wäre. Die Forscher vermuten, dass die Vögel zwar ein gutes Verständnis von der Funktion ihrer Werkzeuge (der Steine) haben, die Eigenschaften der zu manipulierenden Objekte (der Röhren) aber möglicherweise schlechter einschätzen können.
Für den letzten Versuch der Serie hatten die Forscher eine wassergefüllte Röhre, die für die Steine zu schmal war, mit einem Leckerbissen versehen. Links und rechts davon standen zwei breitere, ebenfalls wassergefüllte Röhren ohne Leckerbissen, in welche die Steine hineinpassten. Eine der beiden breiten Röhren war u-förmig mit der schmalen in der Mitte verbunden. Dadurch ließen in diese Röhre geworfene Steinchen auch den Wasserstand in der schmalen Röhre mit der Belohnung ansteigen. Da die Verbindung der Röhren aber versteckt war, konnten die Krähen nicht vorhersehen, was das Hineinwerfen der Steinchen bewirkt. Im Gegensatz zu den vorherigen Versuchen war der kausale Zusammenhang in diesem Versuch also nicht ersichtlich. Hier scheiterten die Krähen. Sie warfen rein zufällig Steine in beide Röhren und zeigten auch nach mehrmaligem Ausprobieren keine Anzeichen, dass sie die richtige Röhre erkannten.
Für die Wissenschaftler zeigt ihre Serie an Versuchen, dass die Vögel die Zusammenhänge von Objekt und Wasserverdrängung insgesamt gut begreifen. Die für die Tiere nicht sichtbare Verbindung zwischen den Röhren im letzten Versuch war aber scheinbar nicht mit ihrem physikalischen Verständnis vereinbar, was ihr Scheitern an dieser Aufgabe erklären würde. Vergleicht man die erstaunliche Intelligenzleistung der Geradschnabelkrähen mit der von Kindern, sind die Vögel etwa so schlau wie Fünf- bis Siebenjährige.
In diesem etwa dreiminütigen Video haben die Wissenschaftler jeweils eines ihrer Versuchstiere beim Lösen der verschiedenen Aufgaben aufgezeichnet. (Video: Sarah A. Jelbert et al.; CC-BY-4.0-Lizenz)