Unser Besuch im Londoner Grant Museum of Zoology and Comparative Anatomy
Schon beim Betreten des Grant Museum of Zoology and Comparative Anatomy in London merken wir, dass dieser Ort etwas ganz Besonderes ist. Unzählige Skelette und Gläser mit konservierten Tieren reihen sich aneinander. Alte Vitrinen, vergilbte Etiketten und Schwarz-Weiß-Fotografien von Studenten an Mikroskopen dokumentieren die lange Geschichte der Sammlung. Im Jahr 1827 wurde sie von Robert Edmond Grant (1793-1874) begründet. Die Objekte dienten hauptsächlich zu Lehrzwecken für die Studenten der London University (heute University College London) und erst im Jahr 1997 wurde die Sammlung für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Grant war nicht nur Gründer der Sammlung, er war auch der erste Professor für Zoologie und vergleichende Anatomie Englands. Er lehrte seinen Studenten die Ähnlichkeiten und Unterschiede von Tiergruppen und unterrichtete schon Jahre vor dem Erscheinen von Charles Darwins bahnbrechendem Werk „Über die Entstehung der Arten“ Ideen über die gemeinsame Abstammung aller Tiere und ihre Evolution. Nach dem Tod von Grant, der auf dem Londoner Highgate Friedhof seine letzte Ruhe fand, wurde die Sammlung von seinen Nachfolgern weiter katalogisiert, gepflegt und vergrößert.
In einer der Vitrinen im Eingangsbereich des Museums sehen wir Wachsmodelle fremdartig anmutender Wesen, die auf Holzsockel montiert sind. Es handelt sich um Darstellungen von Embryonen in verschiedenen Entwicklungsstadien. Sie stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit solchen Modellen war es möglich, Studenten auch mikroskopisch kleine Strukturen anschaulich zu machen. Daneben werden eine Maus, eine Taube und ein Frosch in Präparategläsern mit Konservierungsflüssigkeit präsentiert. Ihre Organe sind freigelegt und quellen zum Teil aus den geöffneten Körpern hervor. Es ist kein Zufall, dass genau diese Tiere zu sehen sind; sind es doch besonders oft in der Forschung verwendete Organismen. Dadurch, dass sich verschiedene Forschungsbereiche auf wenige gut untersuchte Arten konzentrieren, können oftmals schneller Erkenntnisse gewonnen werden, die sich dann auf andere Lebewesen, insbesondere auf den Menschen, übertragen lassen. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts erlangten solche Modellorganismen immer mehr Bedeutung. Dieser Trend und die Entwicklung neuer Methoden im Bereich der Biochemie und Genetik sorgten dafür, dass die klassische vergleichende Anatomie nach und nach in den Hintergrund geriet. Dies war auch die Zeit, als viele Universitätssammlungen ihre historischen Stücke verkauften oder gänzlich aufgelöst wurden. Die vergleichend-anatomische Lehrsammlung des Grant Museum of Zoology ist eine der wenigen, die bis heute bewahrt werden konnte.
In einer anderen Vitrine entdecken wir in Präparategläsern filigran wirkende Tiere, wie Schnecken, Tintenfische und Seegurken. Bei genauerem Hinsehen lässt sich erkennen, dass diese Objekte keine echten Tierpräparate, sondern äußerst detailliert gestaltete Glasmodelle sind. Sie wurden von Leopold Blaschka (1822-1895) und seinem Sohn Rudolph (1857-1939) im späten 19. Jahrhundert hergestellt. Die Blaschkas waren Glasbläser aus Dresden und fertigten naturgetreue Glasmodelle von Pflanzen und Tieren an, die mit den damals üblichen Methoden nicht oder nur in unzureichendem Maße konserviert werden konnten.
Ein Glas voll mit Maulwürfen (Talpa europaea) ist eines der ungewöhnlicheren Stücke in der Ausstellung. Es ist nicht genau bekannt, warum achtzehn dieser Tiere so dicht gepackt zusammen konserviert wurden. Vielleicht sollten sie einst an Studenten zum Sezieren verteilt werden oder bestimmten anatomischen Studien dienen, für die man mehrere Individuen brauchte.
Unser Blick richtet sich nach oben. Auf einer Galerie sind Skelette von Menschen und Menschenaffen aufgereiht. Sie stehen vor einer Wand aus Büchern und ihre leblosen Schädel scheinen die Besucher anzugrinsen. Die Bücherregale erinnern an die Geschichte des 1906 errichteten Gebäudes. Erst im Jahr 2011 ist das Grant Museum of Zoology in diese Räumlichkeiten eingezogen, die früher eine Bibliothek, die Medical School Library, beherbergten. Entlang der Wände des Museums befinden sich beleuchtete Vitrinen, in denen Tiere anhand der biologischen Systematik angeordnet sind oder Organe unterschiedlicher Tiere gezeigt werden. Die Schädel verschiedener Vogelarten liegen in einer dieser Vitrinen. Ihre Schnäbel zeigen deutliche Unterschiede. Einer der Schädel besitzt einen sehr langen und dünnen Schnabel, der wie eine enorme Pinzette aussieht. Er gehört zu einer Waldschnepfe (Scolopax rusticola), die damit im Boden nach Insekten und Würmern stochert. Ein anderer Schnabel ist am Ende löffelartig erweitert. Es ist der eines Löfflers (Platalea sp.). Diese Vögel nutzen ihren Schnabel, um Wasserorganismen aufzuspüren und zu fangen. Der scharfe, kurze Schnabel des Waldkauzes (Strix aluco) dient ihm dazu, das Fleisch seiner Beutetiere zu zerreißen.
Äußerst faszinierend finden wir auch die aufgeschnittenen Köpfe verschiedener Tiere, die von dem Chirurgen und Mediziner Victor Negus (1887-1974) angefertigt wurden. Eine Seite ist intakt und man sieht die halbgeschlossenen Augen der konservierten Köpfe. Die andere Seite ist präzise entfernt worden und gibt Einblick in die Strukturen im Kopfinneren. Negus untersuchte den Aufbau von Kehlkopf, Nase und Ohr und verglich diesen bei unterschiedlichen Tiergruppen. Seine sezierten Tierköpfe in Gläsern sind nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern bilden auch Objekte morbider Schönheit.
In den mit Skeletten und Gläsern bestückten Vitrinen entdecken wir manchmal kleine Tiermodelle. Das Museum hat diese in den 1970er Jahren erworben. Sie sollten den Studenten dazu dienen, sich eine bessere Vorstellung von der Gestalt der Tiere zu machen. Auch einige seltene Skelette heute ausgerotteter Tiere kann man in den Schränken finden, wie das des Beutelwolfs (Thylacinus cynocephalus), des Quaggas (Equus quagga quagga) oder der Dronte (Raphus cucullatus). In einigen Gläsern sind Präparate mit farbigen Skeletten zu sehen. Es handelt sich um eine besondere Art der Präparation, bei der Knochen mit Alizarin rot gefärbt werden und weiche Gewebe durchsichtig erscheinen. Angeleuchtet erstrahlen die Knochenstrukturen in einer Intensität, die sie fast künstlich wirken lässt. Die roten Rippen und Handknochen sowie andere Strukturen der präparierten Vögel und Reptilen zeigen die erstaunlichen Ähnlichkeiten, aber auch die Unterschiede ihrer Anatomie.
Neben den vielen Präparaten größerer Wirbeltiere legt das Grant Museum of Zoology auch Wert auf kleinere und unauffälligere Tiere. So interessierte sich der Gründer der Sammlung besonders für marine Wirbellose, wie Schwämme und Schnecken. Er trug mit seinen Untersuchungen dazu bei, zu klären, dass die Schwämme zu den Tieren gehören. Schwämme galten lange als Pflanzen oder pflanzenähnliche Tiere, von denen man annahm, dass sie ihre Nährstoffe aus dem Boden aufnähmen. Durch Beobachtungen unter dem Mikroskop erkannte Grant jedoch kleine Poren, durch welche die Schwämme Wasser mit Nahrungspartikeln ins Körperinnere leiten. Ein besonderer Bereich des Museums beschäftigt sich mit mikroskopisch kleinen Tieren und Strukturen: Das sogenannte Micrarium. Rund 2300 von hinten beleuchtete Objektträger hängen an den Wänden des kleinen Raumes. Im Inneren des Micrariums stehend können wir die feinen Objekte auf den Glasplättchen erkennen, von diversen Parasiten, über winzige Fliegen und Krebstiere bis hin zu gefärbten Ringelwurm-Querschnitten.
Im Laufe der vergangenen 190 Jahre hat die Lehrsammlung des Grant Museum of Zoology viel mitgemacht. Seit ihrer Gründung wechselte sie wiederholt das Gebäude. Mehrfach brach die Decke des Museums ein, wobei auch einige Objekte zerstört wurden. In den 1970er Jahren fehlte das Dach sogar komplett. Auch stand das Museum nicht nur einmal kurz vor der Schließung. Dennoch fand die Sammlung weiter in der universitären Lehre Verwendung, wie es seit Robert Edmond Grants Zeiten der Fall war. Und auch heute wird sie intensiv genutzt, sei es für die Ausbildung von Schülern und Studenten, und eben auch als Schausammlung für Besucher. Und diese Sammlung lohnt sich sehr zu besuchen! Vor allem Skelette und Nasspräparate lassen sich in den Vitrinen bewundern; Dermoplastiken, wie sie die Museen in Tring oder Dublin prägen, sind hier eher die Ausnahme. Ein kleines Manko, wie wir finden, ist allerdings, dass kaum wissenschaftliche Artnamen an den Präparaten zu finden sind. Auch wenn die Grundfläche des Museums eher überschaubar ist, kann man sich leicht mehrere Stunden zwischen den vollgepackten, aber sehr durchdacht und mit viel Liebe zum Detail arrangierten Vitrinen verlieren.