Zahllose Tierpräparate in historischen Vitrinen geben Einblick in das Leben eines Exzentrikers und Museumsdirektors.
„Mama, Papa, ich werde ein Museum machen […].“ Mit diesen Worten äußerte der naturbegeisterte Bankierssohn Lionel Walter Rothschild (1868-1937), meist nur Walter Rothschild genannt, bereits im Alter von sieben Jahren seinen Plan, irgendwann ein eigenes Naturkundemuseum zu leiten. Und dieser Wunsch sollte tatsächlich in Erfüllung gehen. Ebendiesem Museum, welches im nordwestlich von London gelegenen Tring zu finden ist, haben wir einen Besuch abgestattet. Bis vor einigen Jahren trug es noch den Namen „Walter Rothschild Zoological Museum“. Als Teil des Londoner Natural History Museum wurde es aber mittlerweile in Natural History Museum Tring umbenannt.
Auch wenn die Grundfläche des Museums nicht sonderlich groß ist, erstreckt es sich über mehrere Stockwerke und bietet eine enorme Fülle von Präparaten quer durch das Tierreich. Beschriftungen an einzelnen Exponaten informieren über die englischen und wissenschaftlichen Namen der Tiere und über ihre Herkunft. Im unteren Stockwerk der Ausstellung stehen die historischen Vitrinen so eng beieinander, dass für die Besucher nur schmale Korridore bleiben, von denen aus sie in die Glasaugen unzähliger Vögel und Säugetiere, darunter diverse Primaten und Großkatzen, blicken können. So starrt das Präparat eines Gewöhnlichen Wieselmakis (Lepilemur mustelinus) aus Madagaskar seit rund einem Jahrhundert mit scheinbar verwundertem Blick die immer wechselnden Besucher an, welche die ausgestopfte Vielfalt der Natur betrachten.
Walter Rothschild wuchs in einer der weltweit reichsten Familien auf. Schon als kleiner Junge zeigte er eine unersättliche Faszination für Tiere. Mit zehn Jahren besaß er bereits eine beachtliche Sammlung an Tierpräparaten, darunter Käfer, Schmetterlinge, Vögel, Fische und Säugetiere. Sein Vater wollte allerdings, dass sein Sohn in seine Fußstapfen tritt und in der Bank der Familie arbeitet. Obwohl er dem Wunsch seines Vaters zunächst nachgab und ins Bankgeschäft einstieg, fühlte sich Walter Rothschild stets viel mehr von der Welt der Tiere angezogen und traf sich lieber mit Naturforschern und Tierpräparatoren. Als er 21 Jahre alt wurde, machten ihm seine Eltern schließlich ein grandioses Geschenk: Sein eigenes Museum! Wenige Jahre später wurde dieses auch für Besucher geöffnet. Auch wenn Walter Rothschild noch bis zum Alter von 40 Jahren als Bankier arbeitete, war er doch mit Leib und Seele Museumsdirektor.
Rothschilds Museum beinhaltet die größte zoologische Sammlung, die je ein einzelner Mensch zusammengetragen hat. Viele der Tiere kamen aus fernen Ländern. Eigens durchgeführte Expeditionen brachten eine immense Fülle von damals oft unbekannten Arten. Der Museumsdirektor Walter Rothschild stellte Kuratoren ein, die das Material sichteten, katalogisierten und pflegten.
Von der Galerie in der mittleren Ebene der Ausstellung kann man das untere Stockwerk überblicken. Die Dichte an Tierpräparaten erinnert uns ein wenig an das Naturhistorische Museum in Dublin. Großtiere, wie Giraffen und Nashörner stehen auf den Vitrinen und ragen in das mittlere Stockwerk herein. Meist bleibt unser Blick aber an den Wänden hängen, wo Unmengen Meerestiere, vor allem Fische, zu sehen sind. So wie der Bucklige Anglerfisch (Melanocetus johnsonii), der Beutetiere, die größer sind als er selbst, in einem Stück verschlingen kann. Entlang der Galerie sind hölzerne Kästen aufgereiht, deren Klappen wir öffnen, um hineinzuschauen. Im Inneren entdecken wir verschiedenste Gliederfüßer, wie Skorpione, Spitzkopfzikaden und Hundertfüßer, die mit kleinen Nadeln aufgespießt sind. In einem der Kästen ist eine Lupe angebracht, die das winzige Präparat darunter vergrößert. Wir sehen zwei Flöhe, denen Stoffteile angenäht wurden, so dass sie aussehen wie kleine Menschen, die Kleidung tragen. Solche Kuriositäten wurden traditionell in Mexiko unter dem Namen „Pulgas Vestidas“ („Bekleidete Flöhe“) hergestellt und verkauft.
Ein kleiner Raum in dem Museum ist ganz dem Leben des Gründers gewidmet. Er ist wie ein privates Zimmer eingerichtet. Über einem Kaminsims hängt ein Ölgemälde mit Walter Rothschilds Konterfei. In der Mitte steht das Modell einer Galápagos-Riesenschildkröte (Chelonoidis nigra), wie die, die Walter Rothschild in seinem Garten hielt. Der exzentrische Museumsdirektor liebte diese gepanzerten Reptilien. Er schrieb Abhandlungen über sie und setzte sich für ihren Schutz ein. Und auch Kasuare (Casuarius spp.), große Laufvögel aus Neuguinea und Nordaustralien, hatten es dem leidenschaftlichen und äußerst fachkundigen Zoologen angetan.
Walter Rothschild hatte eine Vorliebe für das Seltene und Seltsame. So sehen wir mehrere Farbmutanten in seiner Sammlung, wie einen gelben Halsbandsittich (Psittacula krameri), ein Vogel, der normalerweise grünes Gefieder hat, dem aber ein bestimmtes Pigment fehlt. Auch Hybride sind ausgestellt, unter anderem eine Kreuzung aus Haushuhn (Gallus gallus domesticus) und Fasan (Phasianus colchicus). In einer Vitrine sind verschiedene Arten und Unterarten von Zebras zu sehen. Walter Rothschild hielt auch selbst Steppenzebras (Equus quagga), die er zähmte, so dass er sie vor eine Kutsche spannen und sich von ihnen ziehen lassen konnte. Es war einer der erfolgreichsten Versuche überhaupt diese Tiere zu zähmen. Als Reittiere setzte Rothschild seine Zebras jedoch nicht ein, da sie sich nicht so gut wie Hauspferde (Equus ferus caballus) auf Kommandos dressieren lassen und mitunter sehr aggressiv reagieren.
Die obere Etage des Museums beherbergt vor allem Säugetiere und Reptilien. Die Vitrinen sind voll mit verschiedenen Arten von Paarhufern. In anderen Vitrinen hängen dutzende Fledermäuse, tummeln sich Spitzhörnchen und Beutelratten. Auch Walter Rothschilds geliebte Schildkröten entdecken wir. Unter anderem eine Aldabra-Riesenschildkröte (Aldabrachelys gigantea), die bei ihm lebte und zu den größten bekannten Exemplaren von Landschildkröten überhaupt zählt. Für ein Naturkundemuseum durchaus etwas Besonderes, sind in einer der Vitrinen unterschiedliche Hunderassen ausgestellt. Eindrücklich zeigen sich die starken Veränderungen, die der Mensch durch Zuchtwahl hervorgebracht hat. Die Sammlung von präparierten Hunden stammt allerdings nicht von Walter Rothschild, sondern kam erst 1968 in das Museum.
Im Jahr 1932 musste Walter Rothschild den Großteil seiner geliebten Vogelsammlung aus finanziellen Gründen an das American Museum of Natural History in New York verkaufen. Sechs Jahre später starb er und vermachte seine Sammlung, der er sein gesamtes Leben gewidmet hatte, der naturhistorischen Abteilung des British Museum in London, dem heutigen Natural History Museum. Heute umfasst die in Tring gezeigte Schausammlung etwa 4000 Objekte. Da sich das Museum im Laufe der Zeit nur relativ wenig verändert hat, erzählt ein Besuch noch immer viel vom Leben und Wirken des Walter Rothschild.