Die Wigandsche Drogensammlung an der Universität Marburg.
Südlich der Marburger Elisabethkirche liegt der alte Botanische Garten der Universitätsstadt mit dem neugotischen Gebäude des Instituts für Pharmazeutische Biologie und Biotechnologie. In dessen Inneren verbirgt sich eine einzigartige Sammlung, das Pharmacognostische Cabinet des Julius Wilhelm Albert Wigand (1821-1886).
Als „Pharmakognosie“ oder „Drogenkunde“ wird die Lehre von Aussehen, Herkunft, und Inhaltsstoffen pflanzlicher und tierischer Arzneimittel (Drogen) bezeichnet. Albert Wigand, der in Marburg Professor für Pharmakognosie und Botanik war, begründete die dortige pharmakognostische Sammlung im Jahr 1854. Die Sammlung diente zur Ausbildung der angehenden Apotheker, die im Kurfürstentum Hessen ab 1853 ein zweisemestriges Studium der Pharmazie mit Staatsexamen absolvieren mussten.
Später geriet Wigands Drogensammlung in Vergessenheit, bis sie im Jahr 1970 von der damaligen Doktorandin Barbara Rumpf-Lehmann auf dem Dachboden des Instituts wiederentdeckt wurde. Allerdings war der Originalkatalog zu den etwa 2600 Exponaten nicht mehr auffindbar. Daher rekonstruierte Rumpf-Lehmann den Aufbau der Sammlung akribisch anhand Wigands „Lehrbuch der Pharmakognosie“. Bis heute wird das Pharmacognostische Cabinet von Rumpf-Lehmann betreut.
Die Exponate der Sammlung befinden sich größtenteils noch in historischen Gefäßen, viele sogar in mundgeblasenen Gläsern. Auch die handschriftlichen Originalzettel sind oftmals noch erhalten. Schwerpunkt der Sammlung sind pflanzliche Arzneidrogen; es gibt aber auch tierische und mineralische Drogen zu sehen. Ein Teil der Sammlung, insbesondere einige der besonders skurrilen tierischen Drogen, stammt noch aus dem Besitz des Apothekers Friedrich Wigand, dem Vater Albert Wigands.
Zu den tierischen Drogen der Sammlung gehört beispielsweise „Scincus marinus“, eine in Lavendelblüten gelagerte Echse. Bei dem getrockneten Reptil handelt es sich um den in Vorderasien und Nordafrika verbreiteten Apothekerskink (Scincus scincus), der früher als Stimulans und Aphrodisiakum verabreicht wurde. Weiße und rote Korallen (Corallium spp.) sind ebenso Bestandteil der Sammlung, wie getrocknete Asseln, geraspelte Hirschgeweihe und gebranntes Elfenbein.
In der Sammlung befindet sich auch die getrocknete Schwimmblase eines Hausens (Huso huso), einer Störart. Hausenblasen, die größtenteils aus Kollagen bestehen, wurden zur Herstellung von Fischleim für Pflaster genutzt. Sie dienen aber auch (zum Teil bis heute) zur Klärung bei der Wein- oder Bierherstellung.
In einem Glas sind die Duftdrüsen von Moschustieren zu sehen. Moschustiere (Moschus spp.) sind kleine, hirschähnliche Paarhufer aus Asien. Die männlichen Moschustiere besitzen nicht nur zu großen Hauern verlängerte Eckzähne, sondern auch Duftdrüsen, die ein stark riechendes Sekret abgeben. Dieses Sekret, der sogenannte Moschus, diente jahrhundertelang zur Herstellung von Parfüm. Auch das aus Blütenblättern von Rosen gewonnene Rosenöl, von dem Gefäße ebenfalls in der Sammlung zu finden sind, ist bis heute ein sehr teurer Grundstoff für die Parfümherstellung.
Ein besonders morbides Kuriosum ist das mit „Mumia vera“ beschriftete Glas. Unter diesem Namen wurden Präparate aus zermahlenen ägyptischen Mumien in Apotheken verkauft. Und tatsächlich lässt sich im Inneren des Glases die Schädeldecke einer menschlichen Mumie erkennen. Dem Mumienpulver wurden verschiedenste Heilwirkungen zugeschrieben; es diente aber auch zur Herstellung einer Künstlerfarbe, dem „Mumienbraun“. Zur Zeit Albert Wigands wurde „Mumia vera“ allerdings kaum noch verwendet und auch in dessen Lehrbuch wird es mit keinem Wort erwähnt.
Die Marburger Sammlung verdeutlicht gut, dass das Angebot der Apotheken im 19. Jahrhundert deutlich breiter gefasst war als heute. So beinhaltet sie unter anderem verschiedene Gewürze, Tee, Kakao, Kaffee und Vanille. Und auch Farben wurden in Apotheken verkauft. In der Sammlung befinden sich so unter anderem getrocknete Cochenilleschildläuse (Dactylopius coccus) aus Mexiko, aus denen der rote Farbstoff Karmin gewonnen werden kann. Zur Herstellung von blauem Farbstoff wurde der ebenfalls in der Sammlung enthaltene Färberwaid (Isatis tinctoria) verwendet.
Versteckt in einem Sammlungsschrank, lässt sich ein kleiner Becher aus dem Holz der südamerikanischen Baumart Quassia amara (Bitterholz) finden. Wird dieser Becher mit Wein gefüllt und über Nacht stehen gelassen, entsteht ein bitteres Getränk, das gegen Appetitlosigkeit und Magenbeschwerden helfen soll.
Ein Schwerpunkt der Marburger Sammlung sind Chinarinden. Chinarindenbäume (Cinchona spp.) kommen mit zahlreichen Arten in Süd- und Mittelamerika vor (nicht aber in China). Einige Arten werden wegen der in der Rinde vorkommenden Substanz Chinin genutzt, welche als Fieber- und Grippemittel oder gegen Rheuma eingesetzt wird. Im 19. Jahrhundert mussten Apotheker in der Lage sein, aus den vielen wildwachsenden Chinarinden die wirksamen zu erkennen, wozu Vergleichsmaterial sehr wichtig war. Um die feinen Unterschiede zwischen den verschiedenen Rinden zu erlernen, gab es sogar eigene Lehrkästen, die in der Sammlung zu sehen sind.
Einige in der Sammlung vorhandene Substanzen dienten Apothekern dazu, Hilfsstoffe zur Verabreichung von Arzneien herzustellen. So verwendete man für Salben oftmals Walrat („Sperma ceti“), eine fett- und wachshaltige Substanz aus dem Kopf des Pottwals (Physeter macrocephalus). Um Tabletten herzustellen, nutzen die Apotheker verschiedene Sorten von Stärke, die sich in vielen Varianten in der Sammlung finden lassen.
Wigands Sammlung hatte zwar stets nur einen geringen Etat zur Verfügung, doch gelang es ihm, sie mit der Zeit immer wieder zu erweitern. Insbesondere durch Schenkungen kamen zahlreiche Exponate hinzu, beispielsweise durch den Brasilienforscher und Ethnologen Carl Friedrich Philipp von Martius, welcher der Sammlung unter anderem Bananen stiftete (als „Paradiesfeigen aus französisch-Guayana“), und durch den Prager Sammler und Händler Josef Dittrich.
Zwar mag das Pharmacognostische Cabinet an der Universität Marburg auf den ersten Blick etwas unscheinbar wirken, doch erlaubt es einen einzigartigen Einblick in die Geschichte der Pharmazie. Die sehenswerte Sammlung kann im Rahmen von Führungen besucht werden, die mit Barbara Rumpf-Lehmann vereinbart werden können.