Verbrecherschädel, ein albinotisches Kind und ein hockendes Skelett – die Schätze der anatomischen Lehrsammlung der Universität Marburg.
Die unscheinbaren Treppen im Institut für Zytobiologie der Philipps-Universität Marburg führen uns hinauf bis in das Dachgeschoss des Backsteingebäudes. Dort angekommen treten wir in den Eingangsraum des Museum Anatomicum mit den ersten Vitrinen und historischen Kupferstichen. Erst seit etwa 30 Jahren ist diese historische anatomische Lehrsammlung für Besucher zugänglich. Die Geschichte des Museum Anatomicum reicht aber sehr viel weiter zurück.
Vor mehr als 200 Jahren wurde der Anatom und Chirurg Christian Heinrich Bünger (1782-1842) als Anatomieprofessor an die Universität Marburg berufen. Dort bemühte er sich, die damals noch recht kleine anatomische Sammlung zu erweitern. Bei seinem Umzug von Helmstedt nach Marburg hatte er bereits einige Präparate und Gemälde mitgebracht; viele weitere Exponate fertigte er später an oder erhielt sie von Ärzten aus der Umgebung. Bekannt sind beispielsweise Büngers Injektionspräparate, für die er Blutgefäße mit rot und blau gefärbtem Wachs ausspritzte und so außergewöhnliche Objekte erschuf. Und auch Büngers Nachfolger trugen zur Erweiterung der Sammlung bei. Im 19. Jahrhundert waren anatomische Sammlungen unverzichtbarer Bestandteil der medizinischen Ausbildung. Mit dem Aufkommen von Fotografie und Röntgentechnik verloren sie jedoch an Bedeutung und so geriet auch die Marburger Sammlung mehr und mehr in Vergessenheit. Erst in den 1980er Jahren wurde die historische Sammlung von dem Marburger Anatomieprofessor Gerhard Aumüller neu katalogisiert und ist seitdem auch erstmals für die Öffentlichkeit zugänglich. Das heutige Museum Anatomicum spiegelt den Stand der Sammlung von ca. 1920 wieder und umfasst etwa 3000 einzelne Objekte.
An einem Wegesrand fand man ein blutiges Messer
Vom Eingangsraum des Museums gehen wir in den ersten Ausstellungsraum. Dort sind in einer Vitrine Schädel mit dazugehörigen Totenmasken ausgestellt. Es handelt sich um die Schädel hingerichteter Verbrecher, die dem Anatomischen Institut Marburg zur Verfügung gestellt wurden. Laut einem historischen Katalog besaß die Sammlung einst über 30 solcher Verbrecherschädel aus ganz Hessen; heute sind nur noch sieben vorhanden. Einer der Schädel in der Vitrine gehörte dem 1816 geborenen Johann Heinrich Nolte. Mittellos geworden, hoffte er auf eine reiche Dame, die er heiraten wollte. In Kassel traf er schließlich auf Emilie Lotheisen, von der er dachte, sie sei eine vermögende Erbin. Als sich jedoch herausstellte, dass sie nicht viel mehr als er selbst besaß, wollte er sie wieder loswerden und lud sie zu einer Reise nach Wiesbaden ein von der sie nie mehr zurückkehren sollte. An einem Wegesrand fand man ein blutiges Messer und eine große Menge Blut. Die Leiche der Frau wurde bald darauf im Rhein gefunden; sie wies Stichverletzungen auf. Nolte wurde des Mordes bezichtigt. Das Messer sowie weitere Gegenstände, die mit dem Messer gefundenen wurden, gehörten nachweislich ihm und kurz nach dem Tod von Emilie Lotheisen verkaufte er ihre letzten Wertpapiere zur Tilgung seiner Schulden. Die Beweislage war erdrückend und so wurde er 1861 mit einem Schwerthieb enthauptet und letztendlich in die Marburger Anatomie überführt. Verbrecherschädel wurden zu dieser Zeit oft nach besonderen Merkmalen untersucht, von denen angenommen wurde, dass sie auf einen bösartigen Charakter hindeuten könnten.
Gegenüber von den Verbrecherschädeln entdecken wir die sogenannte „Rassenschädelsammlung“ aus dem 19. Jahrhundert. Aneinandergereiht stehen hier etwa fünfzig menschliche Schädel. Einigen fehlen Zähne, anderen der Unterkiefer. Etiketten an den Regalen verraten ihre Herkunft. Sie stammen von verschiedenen Volksgruppen, unter anderem von Europäern, Chinesen, Malaien und Afrikanern. Diese Schädel sollten dazu dienen, die Variationsbreite der Menschen zu untersuchen.
Im zweiten Raum befindet sich die Skelettsammlung des Museums. Aus Schubladen ragen Wirbelsäulen, Rippen und Oberschenkelknochen heraus. Auch zoologische Präparate, wie Schildkröten- und Krokodilschädel, montierte Skelette von Opossum und Hauskatze sowie Tierskelette mit Missbildungen kann man hier entdecken. An der Längsseite des Raumes hängen, wie Kleider an einer Kleiderstange, vollständig montierte menschliche Skelette. Einige sind von normalem Wuchs, andere durch verschiedene Knochenerkrankungen, wie Skoliose (eine Verformung der Wirbelsäule) oder Rachitis (eine gestörte Mineralisation beim Knochenwachstum) deformiert. Auf dem Boden stehen einige Skelette von Kindern und das eines Kleinwüchsigen mit Achondroplasie. Diese Störung ist eine der häufigsten, die zu Kleinwüchsigkeit führt. Die Knochenwachstumszonen verknöchern dabei zu früh, sodass insbesondere Arme und Beine nur eingeschränkt wachsen können.
Im Flur des Museums fällt uns ein Ölgemälde eines kleinen Kindes mit Albinismus auf. Das Werk stammt aus dem Nachlass Büngers. Auffällig an dem Gemälde sind die bläulichen Verfärbungen von Haut und Lippen des blassen Kindes. Es litt an Morbus Fallot, einem schwerwiegenden Herzfehler, der zu Sauerstoffmangel und somit zu der ungesund wirkenden, bläulichen Haut führt. Auch weitere typische Begleitsymptome der Erkrankung hat der unbekannte Maler in seinem Werk festgehalten. So sieht man die charakteristischen Verdickungen der letzten Fingerglieder und eine Vorwölbung des Brustkorbs durch das krankhaft vergrößerte Herz.
Eine Ausnahmeerscheinung sondergleichen
In einer weiteren Vitrine steht ein beeindruckendes Unikat: ein menschliches Skelett mit der erstaunlichen Größe von 2,44 Metern. Es trägt den Namen „Langer Anton“. Nachdem Anton im Jahr 1596 gestorben war, gelangte seine Leiche nach Helmstedt, wo diese präpariert wurde. Bünger brachte Antons Skelett später mit nach Marburg. Untersuchungen des Schädels konnten Knochenveränderungen im Bereich der mittleren Schädelbasis nachweisen. Dies spricht für einen Tumor der Hirnanhangsdrüse, die dadurch vermutlich übermäßig Wachstumshormone ausschüttete. Anton wäre mit seiner Körperlänge auch heute einer der größten lebenden Menschen und war zu seinen Lebzeiten eine Ausnahmeerscheinung sondergleichen.
Im nächsten Raum entdecken wir in einem der Schränke farbige Wachsmodelle auf schwarzen Holzsockeln; vergrößerte Darstellungen von Geweben und Organen. Sie wurden um das Jahr 1900 angefertigt. Die Erfindung des Mikroskops machte es erstmals möglich, feine Körperstrukturen und sogar einzelne Zellen zu untersuchen. Mit solchen Wachsmodellen versuchte man, diese Strukturen räumlich darzustellen. Entwicklungsreihen von menschlichen und auch tierischen Embryonen und Organen, wie Auge oder Herz, sind durch die Glasscheiben der hölzernen Vitrinen zu sehen.
Vor der nächsten Tür geben uns einige Texttafeln und Originalschriften eine kurze Einführung in die Geschichte der Geburtsmedizin. Das Museum Anatomicum besitzt eine der bedeutendsten Sammlungen zu diesem Thema. Beim Blick ins Innere des Raumes fällt gleich der antike Holzstuhl auf, der ein wenig an einen modernen Liegestuhl erinnert. An den ledernen Vorrichtungen, die zum Anbinden dienten, kann man jedoch schon seinen eigentlichen Zweck erahnen. Es handelt sich um einen Stuhl, der für Entbindungen genutzt wurde. Die Exponate in den Schaukästen zeigen geburtsmedizinische Instrumentarien aller Art. Insbesondere die vielfach durchgeführten Bauchschnitte endeten nicht selten mit dem Tod von Mutter und Kind. Einige der Exponate in den Schaukästen haben eine geradezu verstörende Wirkung, denn unter den ausgestellten chirurgischen Instrumenten finden sich nicht nur Geburtszangen, sondern auch Schädelzertrümmerer und Kopfzieher. Sie dienten insbesondere dazu, im Mutterleib gestorbene Kinder zu entfernen.
Wächserne Reliefs ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich. Eines zeigt den Körper einer Frau, der an die Venus von Medici erinnert und deshalb auch „Marburger Venus“ genannt wird. Sie ist jedoch schwanger und ihr geöffneter Bauch gibt den Blick auf ihr Kind frei. Die kunstvoll gestalteten Wachstafeln wurden um 1790 hergestellt.
Im Zentrum des Raumes befindet sich der konservierte Körper einer hochschwangeren Frau im Längsschnitt. Ihr Kind liegt äußerlich unversehrt in ihrem Unterleib. Im Volksmund wird diese Frau „Marburger Lenchen“ genannt. Über ihr Schicksal ist nicht viel bekannt. Sie soll aus der Marburger Frauenklinik Ende des 19. Jahrhunderts in die Anatomie gelangt sein. Auf Grund einer massiven, krankhaften Verengung ihres Beckens wurde bei ihr ein Kaiserschnitt durchgeführt, den Mutter und Kind jedoch nicht überlebten.
Zusammengekauert hockt ein menschliches Skelett
Zum Schluss betreten wir das sogenannte Büngerzimmer. Diverse Präparate von Tieren, ein imposantes Schlangenskelett an der Decke, eine Peruanische Mumie, tätowierte und getrocknete Stücke menschlicher Haut sowie diverse Injektionspräparate von Menschen und verschiedenen Tieren lassen sich hier finden. Auf engsten Raum zusammengekauert hockt ein menschliches Skelett in einer Vitrine. Die traurige Geschichte seines Besitzers konnte vor einigen Jahren rekonstruiert werden. Der im Jahr 1782 geborene Johann George Henkel sollte als junger Mann zum Militärdienst einberufen werden. Soweit kam es jedoch nicht. Die pure Vorstellung an den Krieg versetzte ihn in solche Angst, dass er psychisch erkrankte. Im Laufe der folgenden Jahre verschlechterte sich sein geistiger Zustand gravierend, ohne dass sein Vater oder sein Bruder etwas dagegen unternehmen konnten. Er wurde unruhig, verwahrloste zusehends, konnte seine Ausscheidungen nicht mehr kontrollieren, wehrte sich mit Gewalt gegen Kleidung und nahm immer mehr eine zusammengekauerte Haltung an. In diesem Zustand („indem sich dieser Mensch nur durch seine menschliche Gestalt von einem Thier unterscheidet“, wie es in einer zeitgenössischen Quelle heißt) wurde er in das Hospital Haina in Nordhessen gebracht, wo sich sein Leiden jedoch nicht besserte, sondern erst mit seinem Tod ein Ende fand. Sein Skelett wurde anschließend von Bünger in der ängstlich hockenden Haltung für die Marburger Sammlung präpariert.
In der Mitte des Büngerzimmers thront ein Schädel. Er stammt von Christian Heinrich Bünger selbst. Der bedeutende Marburger Anatom hatte verfügt, dass seine sterblichen Überreste nach seinem Tod Bestandteil der von ihm so sehr geschätzten Sammlung werden sollten. Sein präpariertes Herz wird in einer silbernen Dose gleich neben seinem Schädel verwahrt, welche die Inschrift trägt „So lange dieses Herz schlug, schlug es für das Wohl der leidenden Menschheit“.
Mit vielfältigen Eindrücken verlassen wir schließlich das Museum Anatomicum. Die Sammlung besticht durch ihre Vielseitigkeit an menschlichen und tierischen Präparaten, aber auch durch die faszinierenden Gemälde und Stiche sowie Wachsreliefs, Modelle und Instrumente. Die Objekte haben viel zu erzählen und einige ihrer Geschichten werden im Museum auf Texttafeln beschrieben. Die historischen Sammlungsobjekte sind aber auch ein beeindruckendes Zeugnis der Medizingeschichte.
Das Museum Anatomicum ist jeden ersten Samstag im Monat von 10 bis 12 Uhr geöffnet. Besuchergruppen können darüber hinaus weitere Besichtigungstermine vereinbaren.
Ein sehr gelungener Bericht, besonders interessant finde ich, dass Bünger verfügt hat, selbst Bestandteil der von ihm geschaffenen Sammlung zu werden.
Das Museum kommt auf die Liste:
„Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah“. :-)
Weiter so, Schemenkabinett!
Müssen.wir.hin.
Danke für diesen interessanten Streifzug durch dieses mir bisher verborgen gebliebene Museum. Sehr faszinierende Exponate. Wie ist es von der Größe her – ähnlich dem Narrenturm in Wien oder dem Vrolijk in Amsterdam. Vermutlich kleiner, aber mindestens ebenso sehenswert.
Den Wiener Narrenturm kennen wir leider noch nicht. Das Museum Vrolik in Amsterdam ist aber insgesamt schon größer. Vor allem ist dort die Dichte an Vitrinen höher und auch die Ausstellungsstücke stehen enger beieinander. Insgesamt ist das Museum Anatomicum aber abwechslungsreicher, was die Art der Präparate angeht.