Das University College London beherbergt den konservierten Leichnam des englischen Philosophen und Sozialreformers Jeremy Bentham, der seinem Wunsch gemäß als sein eigenes Ebenbild fungiert.
In einer großen Glasvitrine im Studentenzentrum des University College London hat Jeremy Benthams Auto-Ikone ihren Platz. Sie besteht aus dem montierten Skelett Benthams, das mit einer naturgetreuen Wachsnachbildung seines Kopfes versehen ist, seine eigene Kleidung samt Hut und Gehstock trägt und auf seinem Lieblingsstuhl sitzt.
Jeremy Bentham wurde 1748 in London geboren. Der Philosoph, Sozialreformer und Jurist gilt als Begründer des Utilitarismus. Diese ethische Lehre betrachtet solche Handlungen als moralisch gerechtfertigt, die zum größtmöglichen Wohlergehen aller Beteiligten führen. Anstelle übergeordneter moralischer Regeln entscheiden im Utilitarismus nur die Folgen von Handlungen über ihre ethische Legitimität. Bentham forderte unter anderem die Trennung von Kirche und Staat, die Abschaffung der Sklaverei, Folter und Todesstrafe, die Gleichberechtigung der Geschlechter und einen rücksichtsvollen Umgang mit Tieren. Zur Sicherung der individuellen Freiheiten befürwortete er allerdings auch eine umfassende staatliche Überwachung und Kontrolle, in der jegliches Fehlverhalten sanktioniert wird. Basierend auf Ideen seines Bruders entwickelte Bentham das Konzept des Panopticons zum Bau von Gefängnissen. In solch einer Haftanstalt kann ein einzelner, für die Insassen nicht sichtbarer Wächter alle Zellen zu jeder Zeit einsehen. Bentham nahm an, dass die permanente Möglichkeit überwacht zu werden, zu einem regelkonformen Verhalten der Insassen im Panopticon führen würde. Jeremy Bentham gilt zudem als geistiger Vater des University College, das 1828 unter dem Namen London University als erste überkonfessionelle Hochschule Englands gegründet wurde. Durch seinen Einsatz für freie Bildung inspirierte er maßgeblich die Gründung dieser Einrichtung, an der, im Gegensatz zu den Universitäten in Oxford und Cambridge, erstmals auch nicht anglikanische Studenten zugelassen werden konnten.
Jeremy Bentham starb am 6. Juni 1832. Sein letzter Wille, den er nur wenige Tage vor seinem Tod verfasst hatte, enthielt genaue Anweisungen, wie mit seinem Leichnam zu verfahren sei, damit dieser zukünftig als sein lebensechtes Ebenbild fungiere, wofür er den Begriff der Auto-Ikone erfand. In seinem Testament hatte Bentham seinen Freund, den Arzt Thomas Southwood Smith, damit beauftragt, die entsprechenden Arbeiten an seiner Leiche durchzuführen. Zunächst sezierte Southwood Smith den Körper im Rahmen einer öffentlichen Lehrveranstaltung in London, bei der neben Anatomiestudenten auch Freunde und Schüler Benthams anwesend waren und während der draußen ein heftiges Gewitter getobt haben soll. Anschließend stellte der Arzt die Auto-Ikone her. Dazu löste er das Fleisch von Benthams Skelett, montierte es mit Drähten und Nadeln, stopfte es sorgfältig aus und kleidete es mitsamt Unterwäsche und zwei übereinander getragenen Paar Socken an.
Es war Benthams Wunsch, dass auch sein Kopf Bestandteil der Auto-Ikone wird. Dazu sollte dieser nach Art der Mokomokai, der traditionell konservierten Köpfe der neuseeländischen Maori, behandelt werden. Es heißt, dass Bentham die für seinen Kopf vorgesehenen Glasaugen zu Lebzeiten stets bei sich trug. Southwood Smith trocknete den Kopf mittels einer Vakuumpupe über Schwefelsäure. Obgleich technisch erfolgreich, erbrachte die Konservierung nicht das erhoffte ästhetische Ergebnis. Daher entschied der Arzt, anstelle des ausdruckslos wirkenden mumifizierten Kopfes mit den grellen Glasaugen, vom französischen Bildhauer Jacques Talrich eine Wachsnachbildung von Benthams Kopf anfertigen zu lassen, für die auch ein Teil seiner echten Haare verwendet wurde.
Haare von Jeremy Bentham befinden sich auch in den 26 goldenen Ringen, die er bereits zehn Jahre vor seinem Tod anfertigen ließ und in seinem Testament ausgewählten Freunden, Verwandten und Angestellten vermachte.
Nach ihrer Fertigstellung fand die Auto-Ikone in der Londoner Praxis von Thomas Southwood Smith ihren Platz, bis er sie im Jahr 1850 dem University College vermachte. Sie war dort zwischenzeitlich Teil der anatomischen Sammlung, wurde während des zweiten Weltkriegs außerhalb von London in Sicherheit gebracht, und war für viele Jahrzehnte in einer großen Holzvitrine im Hauptgebäude der Hochschule ausgestellt. Von dort zog sie im Jahr 2020 an ihren aktuellen Standort im Studentenzentrum.
Benthams mumifizierter Kopf, der lange zwischen den Füßen der Auto-Ikone aufgestellt worden war, erhielt Mitte des 20. Jahrhunderts eine spezielle Holzkiste, die ihn besser schützen sollte. Im Jahr 1975 entwendeten allerdings Studenten des rivalisierenden King’s College London den Kopf und verlangten ein Lösegeld von 100 Pfund für wohltätige Zwecke. Nachdem sich das University College bereiterklärt hatte, ein Lösegeld von 10 Pfund zu spenden, wurde der Kopf schließlich zurückgegeben. In der Folge entschied man allerdings das empfindliche Stück von nun an in einem Tresor aufzubewahren, so dass es heute nicht mehr öffentlich zu sehen ist.
Jeremy Benthams eigenwilliger Wunsch, der Nachwelt als Auto-Ikone erhalten zu bleiben, bot Anlass zu vielen Spekulationen über seine Motive. Einige vermuteten schlicht einen Scherz, mit dem der exzentrische Philosoph die Nachwelt zum Narren halten wollte. Möglicherweise beabsichtigte der Atheist Bentham aber auch religiöse Befindlichkeiten zum Umgang mit dem Tod in Frage stellen. In jeden Fall war ihm die ausreichende Verfügbarkeit von Leichen zur anatomischen Ausbildung und Forschung ein wichtiges Anliegen. Dies war im England des frühen 19. Jahrhunderts ein großes Problem (mehr dazu in unserem Artikel zur Ausstellung „Doctors, Dissection and Resurrection Men“), das erst mit dem Anatomiegesetz von 1832, welches unbeanspruchte Leichen zur Sektion freigab und für das er sich sehr eingesetzt hatte, ein Ende fand. Seine für die damalige Zeit äußerst kontroverse Entscheidung, seinen Leichnam zur anatomischen Sektion zur Verfügung zu stellen, war ein starkes Bekenntnis für eine im Sinne des Utilitarismus optimale Verwendung seiner sterblichen Überreste. Möglicherweise wollte er mit seiner Auto-Ikone auch andere Menschen dazu inspirieren, ihren Körper der Wissenschaft zu vermachen.
Im Jahr 1842 erschien ein zuvor unveröffentlichtes Werk von Jeremy Bentham, welches er kurz vor seinem Tod verfasst hatte, und das weiten Aufschluss über seine Gedanken und Beweggründe liefert. In dieser Schrift mit dem Titel „Auto-Ikone; oder Weitere Verwendungsmöglichkeiten von Toten zum Wohle der Lebenden“ („Auto-Icon; or, Farther uses of the Dead to the Living“) schildert Bentham unter anderem vielfältige Einsatzmöglichkeiten für Auto-Ikonen. Nachdem die weichen Körperteile von Verstorbenen der anatomischen Schulung zugutegekommen waren, könnten ihre Auto-Ikonen beispielsweise in Kirchen oder Privathäusern aufgestellt werden, oder, durch einen Firnis von Kopalharz und mit Kautschuk vor Regen geschützt, sogar im Freien ihren Platz finden. Sie könnten an bestimmten Tagen der Öffentlichkeit präsentiert werden, bei Bühnenstücken zum Einsatz kommen und zukünftigen Generationen als Vorbild oder mahnendes Beispiel dienen. Auch wenn seine Idee keine Nachahmer fand, verkörpert Benthams Auto-Ikone heute wie wohl kein anderes Objekt die Philosophie des Utilitarismus.
Eines der zahlreichen Gerüchte, die sich um die Auto-Ikone ranken, besagt, dass sie regelmäßig an Sitzungen der Hochschulleitung teilnehme. Dort würde Jeremy Bentham als anwesend, aber nicht abstimmend registriert. Nur wenn eine Abstimmung unentschieden sei, würde seine Stimme zugunsten des jeweiligen Antrags gewichtet. Zwar gehört diese Geschichte ins Reich der Legenden, doch hat die Auto-Ikone im Jahr 2013 tatsächlich an einer Sitzung teilgenommen, bei der ein langjähriges Mitglied der Hochschulleitung verabschiedet wurde. Die meiste Zeit bleibt die Auto-Ikone, die fest mit ihrem Stuhl verschraubt und relativ schwer zu bewegen ist, allerdings in ihrer sicheren Vitrine. Dort ist das einzigartige Stück auch besser vor Ausbleichen und Insektenfraß geschützt.
Nichtsdestotrotz ist Benthams Auto-Ikone in den letzten Jahrzehnten weit herumgekommen. In den Jahren 1992 und 2002 wurden die Kleidung und der Wachskopf (allerdings nicht das ausgestopfte Skelett) für Ausstellungen nach Deutschland gebracht und im Jahr 2018 war die komplette Auto-Ikone im New Yorker Met Breuer Museum zu sehen. Bentham, der schon zu Lebzeiten immer nach Amerika reisen wollte, überquerte in dieser Form schließlich zum ersten Mal den Atlantik.
In den vergangen Jahren fanden verschiedene Kunst- und Forschungsprojekte im Zusammenhang mit der Auto-Ikone statt. So wurde beispielsweise im Rahmen des Projekts „Sounds of UCL“ die Geräuschkulisse im Inneren der Auto-Ikonen-Vitrine aufgenommen. Angelehnt an Benthams Konzept des Panopticons wurde in dem Projekt „PanoptiCam“ auf der Vitrine eine Kamera installiert, die permanent den Blick von der Auto-Ikone auf ihre Umgebung ins Internet übertrug. Damit sollten nicht nur Fragen zur Überwachung im öffentlichen Raum aufgeworfen, sondern unter anderem auch Algorithmen zur Besucherzählung getestet werden.
Jeremy Benthams Auto-Ikone steht im Erdgeschoss des Studentenzentrums und ist auch für Personen, die keine Angehörigen des University College sind, öffentlich zugänglich. Wer ihr einen Besuch abstatten möchte, kann sich im Anschluss auch das ganz in der Nähe gelegene Grant Museum of Zoology and Comparative Anatomy anschauen.