Verlassen sie den Tower, droht dem Vereinigten Königreich der Untergang – zumindest der Legende nach.
Sieben schwarzgefiederte Kolkraben (Corvus corax) leben derzeit im Tower of London, der mittelalterlichen Festung am Ufer der Themse. Es heißt, dass wenn alle Raben den Tower verlassen sollten, das Vereinigte Königreich in eine verheerende Katastrophe gestürzt würde. Um die im Tower lebenden Raben daran zu hindern, das Burggelände zu verlassen, werden ihnen einige Schwungfedern gestutzt, sodass sie im Flug nur relativ kurze Stecken überwinden können. Die Legende, dass von den Vögeln das Schicksal des Königreichs abhänge, soll aus dem 17. Jahrhundert stammen. Der Astronom am Hofe König Karls II., John Flamsteed, soll sich bei seiner Arbeit von den Raben im Tower gestört gefühlt haben und die Tötung dieser verlangt haben. Nachdem er jedoch gewarnt wurde, welche Katastrophe dies bedeuten könnte, wurde veranlasst, dass seitdem immer mindestens sechs der Rabenvögel im Tower gehalten werden sollen. Mit dem siebten Raben will man also offenbar auf Nummer sicher gehen. Nicht weniger interessant ist jedoch, dass die Legende um die Tower-Raben wahrscheinlich gar nicht so alt ist. Die erste Erwähnung der Kolkrabenhaltung im Tower stammt nämlich erst aus dem späten 19. Jahrhundert. Und die berühmte Prophezeiung wurde erst seit dem 2. Weltkrieg erzählt. Aber warum leben die Raben dann im Tower of London?
Der Tower ist ein im Laufe der Jahrhunderte mehrfach umgebauter Gebäudekomplex mit zwei Festungsringen und heißt offiziell „Her Majesty’s Royal Palace and Fortress of the Tower of London“. Im 11. Jahrhundert wurde die Festung von den Normannen unter Wilhelm dem Eroberer begründet. Die Nutzung des Towers änderte sich mit der Zeit mehrfach und die Anlage diente unter anderem als Residenz, Münzprägestätte und Waffenlager; bis heute ist sie der Aufbewahrungsort der Kronjuwelen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden auch verschiedene wichtige Gefangene im Tower festgehalten und zum Teil auch hingerichtet.
Auch wenn bereits zuvor einzelne Reisende den Tower besuchten durften, wurde er erst im 19. Jahrhundert im größeren Stil für den Tourismus geöffnet. Die Besucher schätzten die Verbindung von Grusel und Geschichtsträchtigkeit, die den Ort umgab. Der 1840 veröffentlichte Schauerroman „The Tower of London, A Historical Romance“ von William Harrison Ainsworth, in dem die Festung den Schauplatz von Folter und Exekutionen bildet, verstärkte das touristische Interesse für die Burganlage noch.
Kolkraben sind Aasfresser und durchaus dafür berüchtigt, das Fleisch menschlicher Leichen zu fressen. Da Kolkraben in England bis ins 16. Jahrhundert weit verbreitet waren, scheint es wahrscheinlich, dass sie sich auch im und am Tower herumtrieben und die ein oder andere Hinrichtung mit Interesse beobachteten. In späteren Jahrhunderten, insbesondere im 19. Jahrhundert, wurden die schwarzen Vögel durch starke Bejagung allerdings immer seltener. Das letzte in London freilebende Brutpaar wurde 1826 im Hyde Park gesichtet. Was lag da also näher, als Raben im Tower anzusiedeln und sie als Teil der Kulisse für den ansteigenden Tourismus zu nutzen? Die erste bekannte schriftliche Erwähnung der Kolkrabenhaltung im Tower stammt aus dem Jahr 1880. Und seitdem lässt ihr heiseres Krächzen innerhalb der Festungsmauern die schaurige Vergangenheit viel lebendiger erscheinen.
Die Raben trafen den Nerv der Zeit. Im 19. Jahrhundert wurden in Großbritannien neuheidnische Strömungen populär, die Aspekte der keltischen Mythologie aufgriffen. Mehrere keltische Sagengestalten werden mit Rabenvögeln in Zusammenhang gebracht. So der legendäre König Brân Fendigeid („Segensrabe“) aus der walisischen Mythologie, der auch in Verbindung zum Tower of London steht. Der Sage nach trat Brân zum Kampf gegen die Iren an, da der irische König seine Schwester misshandelt hatte. Sein Kampf war zwar erfolgreich, doch wurde Brân mit einem vergifteten Speer tödlich verwundet. Er bat seine sieben überlebenden Gefährten sein Haupt abzutrennen und nach London zu bringen. Dort begruben sie den Kopf an der Stelle, an der sich heute der Tower of London befindet, und Brâns Macht sollte den Ort fortan vor feindlichen Angriffen schützen. Der anglo-irische Adelige und Politiker Windham Wyndham-Quin, 4. Earl of Dunraven (1841-1926) war von keltischen Mythen über Raben fasziniert und nahm an, dass es sich bei Brân um eine reale historische Person handelte. Das Wappen seiner Familie zeigt sogar zwei Raben. Er war es vermutlich, der die ersten gezähmten Kolkraben als Geschenk in den Tower of London brachte.
Doch woher stammt nun die Legende, dass das Vereinigte Königreich untergehen wird, wenn die Raben die Festung verlassen? Obwohl die Anwesenheit der Raben seit dem späten 19. Jahrhundert schriftliche Erwähnung findet, behandelt zunächst keiner der Texte diese Legende. Aus der Zeit des zweiten Weltkrieges lassen sich allerdings Aufzeichnungen einer bemerkenswerten Korrespondenz finden: Im Jahr 1944 bat die Londoner Watney-Brauerei darum, einen der Tower-Raben zu bekommen, da ihr Raben-Maskottchen verstorben war. Die Mitarbeiter der Brauerei glaubten, der Rabe beschütze sie vor den Bomben der deutschen Luftwaffe. Das ist nicht so absurd, wie es zunächst klingen mag, denn Raben sind sehr intelligente Tiere mit einem ausgezeichneten Sehvermögen, die ihren Blick häufig zum Himmel richten und so beispielsweise Greifvögel ausmachen können, aber natürlich auch Flugzeuge. Vielleicht rief der Rabe in der Brauerei, wenn sich ein Flugzeug näherte und warnte so die Arbeiter vor potentiellen Luftangriffen. Letztendlich wurde die Bitte der Brauerei zwar abgelehnt, doch trug sie wohl maßgeblich zu der Vorstellung bei, dass die Tower-Raben das Königreich schützen.
Innerhalb der Festungsmauern werden die Raben von der traditionsreichen Tower-Wache (Yeoman Warders) versorgt. Der eigens für die Rabenpflege verantwortliche Ravenmaster (Rabenmeister), zur Zeit Christopher Skaife, kümmert sich um die schwarzen Vögel (einen Einblick in seine Arbeit bietet dieses englischsprachige Video; Fotos und Geschichten seiner Pfleglinge lassen sich auf seinem Twitter-Konto verfolgen). Die Raben erhalten täglich 170 Gramm rohes Fleisch und spezielle Kekse, die in Blut eingeweicht werden. Einmal pro Woche bekommen sie ein Ei und manchmal auch ein totes Kaninchen samt Fell und Knochen. Jeden Morgen werden die Vögel aus ihren Schlafstätten entlassen und abends kehren sie freiwillig dorthin zurück. Einige der Tower-Raben leben in Partnerschaften, die, wie bei ihren Artgenossen in freier Wildbahn, meist ein Leben lang halten. Und das Leben währt im Tower oft wesentlich länger als bei freilebenden Kolkraben.
Trotz des regelmäßigen Schneidens der Schwungfedern, kam es im Laufe der Zeit zu gelegentlichen Ausbrüchen. So entkam zum Beispiel 1981 ein Rabe mit dem Namen Grog aus dem Tower, in dem er 21 Jahre gelebt hatte. Er wurde zuletzt auf dem Dach eines Pubs im Osten von London gesehen. Kurioserweise sind die Kolkraben offiziell als Soldaten des Königreichs registriert, was bedeutet, dass sie bei einem Fehlverhalten entlassen werden können und den Tower dann verlassen müssen. So geschah es dem Raben George, der 1986 aus dem „Dienst“ entlassen wurde, weil er immer wieder die Fernsehantennen im Tower beschädigte. Heute lebt dieser Rabe im Welsh Mountain Zoo in Wales. Neuerdings treibt sich einer der Tower-Raben (Merlina) gelegentlich außerhalb der Festungsmauern herum. Das ist nicht weiter schlimm, denn der Vogel hat eine starke Bindung zum Ravenmaster und kommt immer wieder zurück. Generell genießen die Tower-Raben heute mehr Freiheit als früher, da der aktuelle Ravenmaster die Federn der schwarzen Vögel weit weniger stark beschneidet als seine Vorgänger dies taten. Und da dank besserer Schutzmaßnahmen die Zahl freilebender Kolkraben in Großbritannien langsam wieder ansteigt, werden sich in Zukunft vielleicht auch wieder wilde Kolkraben im Tower ansiedeln.
Eine sehr schöne, interessante Geschichte.
Gerne würde ich für einen Tag die Aufgaben des Rabenmeisters übernehmen.
Die Intelligenz dieser Tiere wurde ja bereits in einigen
wissentschaftlichen Untersuchungen bestätigt.
Als Ravenmaster zu arbeiten ist sicher sehr reizvoll, aber auch herausfordernd. Einen umfassenden Blick hinter die Kulissen gibt übrigens das Buch Der Herr der Raben des aktuellen Ravenmasters Christopher Skaife. Das Buch ist sehr unterhaltsam und enthält viele Anekdoten zu den Tower-Raben und ihrer Geschichte.