Auf dem Alten Friedhof in Gießen sprießen Frühblüher neben verwitterten Grabsteinen.
Während der Alte Friedhof in Gießen die meiste Zeit des Jahres in Efeugrün und Grabsteingrau getaucht ist, erscheinen im März plötzlich unzählige bunte Tupfer. Frühblüher durchbrechen die Erde des Totenackers und schmücken die alten Gräber. Noch sind die Äste der großen Bäume kahl und die Sträucher wirken wie struppige Kehrbesen. Auch das welke Laub vom Vorjahr ist noch nicht vollständig verschwunden und liegt verstreut an den Wegen des parkähnlichen Geländes.
Auf dem Alten Friedhof, der um das Jahr 1529 aufgrund der Vielzahl von Pesttoten angelegt wurde, finden heute nur noch in Ausnahmefällen Beisetzungen statt. Viele Gräber werden daher schon seit langem nicht mehr von Trauernden besucht. Und doch wirkt es im Frühjahr so, als hätte jemand zum Gedenken der Verstorbenen überall frische Blumen gepflanzt. Ein Büschel Schneeglöckchen (Galanthus) steht direkt vor einem verwitterten Grabstein. Die schneeweißen, glockenförmigen Blüten sind charakteristisch nach unten geneigt. Tatsächlich sind viele der Frühblüher einst gezielt angepflanzt worden und anschließend verwildert. Man spricht dabei von Stinsenpflanzen. Solche Pflanzen breiten sich meist nicht wesentlich weiter aus und wachsen somit manchmal noch heute in der einstigen Umgrenzung des Grabes.
Auch die gelben Blüten des Winterlings (Eranthis hyemalis) lassen sich im März auf dem Alten Friedhof finden. Bei ihrem Austrieb schieben sie das Laub vom letzten Jahr beiseite und stehen leuchtend auf der dunklen Friedhofserde. Doch bereits Ende Mai welken die Blätter des Winterlings und die Pflanze lebt unterirdisch weiter. Eine dicke Wurzelknolle speichert dabei die Reserven, die ihren frühen Austrieb möglich machen. Viele Frühblüher nutzen solche Speicherorgane, damit sie bereits vor den schattenbringenden Bäumen und Sträuchern austreiben und die langsam kräftiger werdenden Sonnenstrahlen des Frühlings einfangen können.
Besonders im Halbschatten der Grabsteine und Bäume auf dem Alten Friedhof findet man Blausterne (Scilla). In sattem Dunkelblau recken sich ihre sternförmigen Blüten aus der Erde. Nebenan steht die Friedhofskapelle mit ihrem Fachwerkobergeschoss. Ursprünglich wurde sie zwischen 1623 und 1625 errichtet. Beschädigt während der Koalitionskriege, stürzte die Kapelle 1840 in sich zusammen. Das heutige Gebäude ist eine Rekonstruktion durch den Architekten Hugo von Ritgen (1811-1889), der auch auf dem Alten Friedhof begraben liegt. Im März steht die Kapelle in einem violetten Blütenmeer aus Krokussen (Crocus). Konkurrenzlos wachsen sie mitten auf der sonnenbeschienenen Fläche. Zahlreiche Insekten, vor allem Bienen und Hummeln, schwirren umher und sammeln emsig den ersten Pollen und Nektar des Jahres.
Die Gelbe Narzisse (Narcissus pseudonarcissus), auch als Osterglocke bezeichnet, ist ebenfalls schon auf dem Friedhof zu finden. Noch sind die gelben Blüten allerdings nicht geöffnet. Die hübsche Pflanze enthält giftige Alkaloide, die bei Verzehr Erbrechen und Durchfall verursachen. Und die Gelbe Narzisse bildet hier keine Ausnahme; viele Frühblüher sind nämlich nicht nur schön anzusehen, sondern auch hochgiftig. Die dicken Speicherorgane, wie Zwiebeln und Knollen, sind für hungrige Pflanzenfresser sehr verlockend. Mit Hilfe von Giften schützen sich die Pflanzen vor Fressfeinden.
Die Farbenpracht auf dem Alten Friedhof in Gießen ist, ebenso wie der Lichterzauber der tanzenden Glühwürmchen im Sommer, nur von kurzer Dauer. Sobald die Bäume und Sträucher Laub tragen, ist die Blütezeit der Frühblüher beendet. Die Pflanzen ziehen sich für den Rest des Jahres in die kühle, dunkle Friedhofserde zurück, wo sie auf ihr Wiedererwachen im nächsten Frühling warten.
Danke, Schemenkabinett, endlich weiß ich, wie die hübschen, blauen Blümchen in meinem Garten heißen.