Wir besuchen den Hoan-Kiem-See in Hanoi, der uns auf die Spur der letzten Jangtse-Riesenweichschildkröten führt.
Es ist eine tragische Geschichte; sie handelt von einer alten Legende, der Sehnsucht der Menschen nach der Natur und ihrer Ohnmacht, diese zu bewahren. Schauplatz ist der Hoan-Kiem-See, ein ovaler Süßwassersee, der mitten in Vietnams Hauptstadt Hanoi liegt. Dieser See war einst die Heimat eindrucksvoller Schildkröten, von denen zwei Exemplare besondere Berühmtheit erlangten. Beide sind mittlerweile verstorben. Es handelte sich um Jangtse-Riesenweichschildkröten (Rafetus swinhoei), die zu den größten Süßwasserschildkröten der Welt gehören. Einst waren diese Tiere wohl in weiten Teilen Chinas und Vietnams verbreitet; heute sind sie jedoch extrem selten.
Als es uns im vergangenen Frühling nach Vietnam verschlägt und wir einen Zwischenstopp in Hanoi machen, nutzen wir die Gelegenheit, den berühmten Hoan-Kiem-See zu besuchen. Die vorletzte Jangtse-Riesenweichschildkröte, die in dem See lebte, verstarb bereits in den 1960er Jahren. Ihr Körper wurde anschließend geborgen und konserviert. Er wird heute in einem Schrein im Jadeberg-Tempel, der auf einer Insel im See steht, ausgestellt. Eine weitere Jangtse-Riesenweichschildkröte lebte hier noch wenige Jahre vor unserem Besuch. Dieses Tier war das letzte seiner Art im Hoan-Kiem-See. Es wird ebenfalls in einem Schrein ausgestellt, gleich neben seinem rund fünfzig Jahre zuvor verstorbenen Artgenossen. Das zuletzt verstorbene Tier wurde von der Bevölkerung liebevoll Cu Rua, „Urgroßvater Schildkröte“, genannt.
Die beiden Schildkröten stehen aus gutem Grund in einem Tempel; sie sind für die Menschen Vietnams etwas ganz Besonderes, ja Heiliges. Der Name des Hoan-Kiem-Sees bedeutet „See des zurückgegebenen Schwertes“ und geht auf eine vietnamesische Legende zurück. Einer gängigen Variante dieser Legende zufolge übergab die Goldene Schildkröte, Kim Quy, dem späteren Kaiser von Vietnam, Le Loi (1385-1433), ein magisches Schwert. Mit diesem führte Le Loi seine Truppen an, besiegte die feindliche chinesische Armee und erkämpfte seinem Land die Unabhängigkeit. Als Le Loi danach in einem Boot auf besagtem See unterwegs war, tauchte die Goldene Schildkröte plötzlich aus dem Wasser auf. Sie forderte das magische Schwert zurück und verschwand damit in den Tiefen. Die Riesenweichschildkröten, die ihren Kopf gelegentlich aus dem Wasser des Hoan-Kiem-Sees streckten, galten als Nachfahren der legendären Goldenen Schildkröte oder wurden gar als das heilige Tier höchstpersönlich betrachtet.
Der Jadeberg-Tempel ist dem vietnamesischen Nationalhelden Tran Hung Dao, der im 13. Jahrhundert die Mongolen schlug, und dem als Gottheit verehrten Philosophen Van Xuong gewidmet. Der Tempel ist vom Ufer des Sees über eine karmesinrote Holzbrücke zu erreichen. Wir lassen den Trubel der Stadt mit ihren ständig überfüllten Straßen und geschäftigen Händlern hinter uns und betreten die Brücke. Von hier aus haben wir einen wunderbaren Blick über den See. In der Ferne entdecken wir den Schildkrötenturm, der auf einer kleinen Insel umgeben von Wasser steht und im 19. Jahrhundert zu Ehren der Goldenen Schildkröte erbaut wurde.
Der rund 600 Meter lange und 200 Meter breite Hoan-Kiem-See hat die Farbe von milchig-grünem Jadestein. Der märchenhafte Anblick täuscht darüber hinweg, dass das Wasser längst zu einer Gefahr für seine Bewohner geworden ist. Müll, Schwermetalle und Sauerstoffmangel belasten den See. Auch ist er zu basisch für viele der dort lebenden Tiere. Regelmäßig treiben die toten Körper von Fischen an der Oberfläche. Man sieht jedoch nicht tatenlos zu. Es gab diverse Aktionen, mit denen versucht wurde, das Problem in den Griff zu bekommen. Die toten Fische wurden abgesammelt, der sauerstoffarme Seegrund abgetragen, Müll regelmäßig entfernt und Schadstoffe im Wasser unschädlich gemacht. Als die letzte Riesenweichschildkröte noch lebte, litt sie sichtlich unter der Wasserverschmutzung sowie unter den aus Nordamerika eingeschleppten, kleineren und agileren Rotwangen-Schmuckschildkröten (Trachemys scripta elegans). Schließlich wurde das geschwächte Tier eingefangen und in einen abgetrennten Teil des Sees gesperrt, in dem das Wasser gefiltert wurde. Nachdem sich die Schildkröte langsam erholte, wurde sie wieder in den See entlassen. Doch die Maßnahmen reichten nicht aus. In den folgenden Jahren kam sie immer häufiger an die Wasseroberfläche. Oft war dies ein großes Spektakel; zahlreiche Einwohner Hanois versammelten sich, um einen Blick auf das legendäre Tier zu erhaschen. Doch der Anblick war zunehmend besorgniserregend. Man sah Verletzungen an der Haut, die teilweise wohl von Angelhaken und Rotwangen-Schmuckschildkröten stammten. Am 19. Januar 2016 fand man die letzte Riesenweichschildkröte des Hoan-Kiem-Sees schließlich leblos in der Mitte des Gewässers treibend. Sie soll etwa 100 Jahre alt geworden sein.
Am Eingang zur Tempelanlage findet sich, neben taoistischen Symbolen wie Tiger und Drache, ein bemaltes Relief, das eine Schildkröte zeigt. Das Tier trägt ein Schwert auf dem Rücken und scheint über dem Wasser zu schweben. Wiederholt entdecken wir im Tempel das Motiv der Schildkröte. Dann gelangen wir in den Raum mit den beiden präparierten Jangtse-Riesenweichschildkröten. Die Schreine, in denen sie liegen, sind mit Holzschnitzereien reich verziert. Beide Tiere sind von beeindruckender Größe und wirken sehr urtümlich. Sie haben lederartige Panzer und ihre Nasen bilden kurze Rüssel. Die in den 1960er Jahren verstorbene Schildkröte hat eine fast schwarze Haut; ihre natürliche Färbung ging bei der Konservierung verloren. Die lebensechte Präparation von Weichschildkröten ist nämlich eine Herausforderung.
An der Konservierung der letzten Riesenweichschildkröte des Sees waren auch deutsche Experten vom Berliner Museum für Naturkunde und dem Naturkundemuseum Erfurt beteiligt. Zusammen mit einem vietnamesischen Team verewigte man den Körper der Schildkröte mit modernsten Präparationsmethoden. Die fast zwei Meter lange Weichschildkröte ist das größte bekannte Exemplar ihrer Art. Fantastische Arbeit wurde bei ihrer aufwändigen Präparation geleistet. Die Körperhaltung und Farben wirken sehr naturgetreu. Ihre Haut und ihr Panzer sind oliv-braun, Bauch, Beine und Hals teilweise rosafarben und gelblich. Mitten auf dem Kopf prangt ein heller, fast goldener Fleck. Das majestätische Tier wirkt, als wäre es nur kurzzeitig erstarrt und wollte sich im nächsten Moment mit seinen kräftigen Beinen zurück an den Grund des Sees begeben.
Als wir vor den Schildkröten-Schreinen stehen, ist uns nicht bewusst, dass kurz zuvor eine weitere Schreckensmeldung verkündet wurde: Im chinesischen Zoo Suzhou war die letzte bekannte weibliche Jangtse-Riesenweichschildkröte verstorben. Das über 90 Jahre alte Tier lebte im Zoo schon einige Jahre mit einem etwa 100 Jahre alten Männchen zusammen und es kam auch immer wieder zu Paarungen. Doch aus keinem der Eier, die das Weibchen ablegte, schlüpften Jungtiere. Der letzte von mehreren Versuchen, das Weibchen künstlich zu besamen, endete mit dem Tod des Tieres. Ein internationales Team von Experten versuchte stundenlang das Leben der Schildkröte zu retten; scheiterte am Ende aber. Sollte dieses Tier tatsächlich das letzte weibliche Exemplar seiner Art gewesen sein, wäre das Schicksal der Jangtse-Riesenweichschildkröte besiegelt. Neben dem Männchen im Zoo Suzhou sind nur noch zwei weitere, vermutlich ebenfalls männliche, Tiere bekannt. Sie leben in Seen in Vietnam in denen kommerzielle Fischerei betrieben wird. Es gibt derzeit aber Bemühungen, diese Gewässer besser zu schützen.
Existieren womöglich noch freilebende Restbestände dieser seltenen Schildkrötenart? In einer aufwändigen Studie aus dem Jahr 2013 wurden dazu unter anderem Dorfbewohner entlang einiger großer Flüsse im Südwesten Chinas befragt. Viele der Einheimischen gaben an, solche Schildkröten noch nie gesehen zu haben, aber ein paar der Befragten berichteten, dass die Tiere in einigen Gegenden, wie an bestimmten Abschnitten des Roten Flusses, früher sogar sehr häufig waren und manchmal am Ufer sonnenbadeten. Sie erzählten auch, dass man irgendwann begann sie zu bejagen. Sie wurden verzehrt und als Heilmittel verwendet. Die Tiere wurden nach und nach immer seltener. Zum Fangen setzte sich bald eine lange, mit vielen scharfen Angelhaken besetzte Leine durch. In den 1990er Jahren war aber auch diese Methode für die mittlerweile selten gewordenen Riesenweichschildkröten nicht mehr effektiv genug. Die Elektrobejagung verbreitete sich; vor allem zum Fangen junger Schildkröten fand sie Verwendung. Augenzeugen, die die Tiere noch kürzlich in freier Wildbahn oder auf Märkten zu Gesicht bekommen hatten, konnten im Rahmen der Studie nicht gefunden werden. Auch in China werden Schildkröten als heilige Tiere verehrt. Sie stehen für Langlebigkeit, Kraft und Beharrlichkeit; den Jangtse-Riesenweichschildkröten half das jedoch nicht. An den Flüssen Vietnams spielten sich währenddessen ganz ähnliche Dramen ab. Die Jagdmethoden waren zum Teil andere, aber das Resultat was dasselbe: Die Riesenweichschildkröten starben langsam aus. Neben der Bejagung war auch die Veränderung ihrer Lebensräume ein großes Problem. So benötigen die Schildkröten Sandbänke als Eiablageplätze. Der Bau von Dämmen verändert die Fließeigenschaften von Flüssen, zerstört Sandbänke, verändert Uferbereiche und trennt die letzten überlebenden Exemplare voneinander. Dennoch hofft man, dass einzelne Individuen in einem bestimmten Teil des Roten Flusses überlebt haben könnten, da die letzten Sichtungen erst wenige Jahre zurückliegen.
Die Menschen kommen gern zur Tempelanlage auf dem Hoan-Kiem-See. Es sind vor allem Vietnamesen, aber auch Menschen anderer Nationalitäten. Die Besucher kommen, um den Jadeberg-Tempel und den See zu sehen, zu beten und zu meditieren und natürlich um die heiligen Schildkröten zu betrachten. Bei unserem Besuch gehen die Menschen so andächtig um die Schreine mit den Präparaten herum, als würden sie die Gräber von Königen besuchen. Neugierig beäugen und fotografieren sie die mächtigen konservierten Körper. Im Tempel wird gebetet, es werden Räucherstäbchen entzündet und Opfergaben in Form von Früchten und anderen Lebensmitteln dargebracht.
Als wir über die karmesinrote Brücke zurück in die nie stillstehende Altstadt Hanois gehen, entdecken wir eine Regung im Wasser. Es ist kein Fisch, sondern eine Schildkröte. Schnell stellt sich jedoch heraus, dass es lediglich eine der eingeschleppten Rotwangen-Schmuckschildkröten ist. Angesichts des Zustands des Hoan-Kiem-Sees und fehlender Sichtungen ist es so gut wie ausgeschlossen, dass noch Riesenweichschildkröten am Grunde des Sees leben.
Die Geschichte der Jangtse-Riesenweichschildkröten verdeutlicht ein allgegenwärtiges Paradox: Obwohl die Tiere offenbar für viele Menschen sehr wichtig sind, sei es, weil ihnen die Natur am Herzen liegt, aus spirituellen oder nostalgischen Gründen, ist ihre Art fast erloschen. Die vietnamesische Bevölkerung trauerte, als die letzte Riesenweichschildkröte im Hoan-Kiem-See starb, denn mit ihr ging auch ein Teil ihrer Kultur unter.